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dot.coaching - Wenn KPIs Führung ersetzen. Warum Organisationen den Sinn verlieren und wie sie ihn zurückgewinnen

Geschrieben von Tobias Ellenberger | 13. Oktober 2025

Wie kündigt man einen Text an, der zum Nachdenken anregen soll? Vielleicht siehst du beim Lesen Bilder, die nicht sofort angenehm sind, so wie ein Fluss, der klar zurückspiegelt, was am Ufer steht. Spiegelbilder können schön und zugleich schonungslos sein. Vielleicht löst der Beitrag sogar ein wenig Frust aus. Aber gerade das kann ein Impuls sein, um innezuhalten und neu zu reflektieren.

In diesem Sinne lade ich dich ein: Lies diesen Beitrag mit offener Haltung und prüfe, welche Gedanken dich dabei begleiten.

Beobachtungen aus der Praxis

Neulich beim Mittagessen mit einem befreundeten Manager, nennen wir ihn hier «M.». Er arbeitet in einem der grössten IT-Konzerne der Welt. Strategisch erfahren, global eingebunden, aber auch spürbar ernüchtert.

Nicht, weil er als Manager die Herausforderungen der globalisierten Welt nicht versteht. Sondern weil das System, in dem er arbeitet, sich manchmal von Logik und Sinn entfernt.

Ein Beispiel: In seiner Firma wurde entschieden, dass künftig jede Führungskraft exakt 20 Direct Reports haben soll. Nicht als Orientierung, sondern als fixe Vorgabe. Also, mal kurz nachdenken. Wenn jede Führungskraft exakt 20 Direct Reports haben muss, dann hat das ja direkte Konsequenzen auf (womöglich alle) bestehenden Teams und Führungskräfte. 

Das Resultat: Teams werden neu geschnitten, Rollen verändert, Einheiten ohne inhaltliche Verbindung geschaffen. Im Vordergrund stehen nicht Themen wie Kundenmehrwert, Optimierung des Flows, Verbesserung der Zusammenarbeit, Optimierung der Qualität, Erschliessung neuer Märkte oder die Lancierung neuer Produkte. Im Vordergrund steht die Optimierung einer arbiträren Zahl, die Erfüllung einer Kennzahl.

Dieses Beispiel ist zugespitzt und doch berichten uns viele Führungskräfte von ähnlichen Erfahrungen. KPIs, die Orientierung geben sollen, werden zum Selbstzweck. Agile Methoden werden eingeführt, aber Entscheidungswege und Führungsbilder bleiben unverändert. Neue Tools werden eingeführt, ohne prozessualen Kontext. Die Beispiele sind vielfältig und nicht selten entsteht dabei Frust und oder Resignation.

Warum geschieht das?

Die Frage ist berechtigt: Warum handeln Menschen und Organisationen so?

Zunächst ganz grundsätzlich zu unserer Haltung. Wir sind der Meinung, dass das Verhalten von Teams sich immer nach den Verhältnissen richtet. Konsequenterweise bedeutet das auch, dass Führungskräfte sich nach den gegebene Verhältnissen richten. Je flacher eine gegebene Hierarchie ist, desto schneller werden Missstände aufgrund "ungeschickter Verhältnisse" sichtbar und können durch die Führung korrigiert werden. 

Gibt es aufgrund der Grösse einer Organisation eine Pyramide von hierarchisch abgegrenzten Führungspositionen, sind die Auswirkungen "ungeschickter Verhältnisse" oft nicht direkt sichtbar. Wie Niklas in seinem Beitrag zu Flow- versus Ressource-Effizienz treffend schreibt, kann es mit genügend Distanz zur effektiven Arbeit auf einmal sehr sinnvoll wirken, Ressourcen möglichst maximal auszulasten. Verhältnisse sind also der Schlüssel für "ungeschickte Verhältnisse". Nicht hinschauen (wollen) hat dann mit persönlicher Haltung zu tun. Aber auch hier wollen wir nicht zu streng sein. Ungeschickte Verhältnisse haben in ihrer Natur, dass sie oft Ressourcen-Optimiert sind, also möglichst alle, inkl. den Führungskräften, maximal auslasten und dann ist der Blick auf "ungeschickte Verhältnisse" ein wahrer Kraftakt.

Eine zweite Dimension, die wirkt, ist die Komplexität der heutigen Welt. Wir leben in einer Zeit, in der Komplexität nicht einfach nur da ist, sondern stetig zunimmt:

  • Technisch sind Systeme kaum noch linear. Wo früher ein mechanisches Teil eine Zahl anzeigte, übersetzen heute Sensoren und Algorithmen Signale in vielschichtige Informationen. Vor Jahren haben wir die rasante Zunahme der Komplexität mit dem exponentiellen Wachstum der gespeicherten Daten, der Geschwindigkeit der Netzwerke und den Rechenoperationen von Prozessoren illustriert. Heute kommen zu diesen Themen das gesamte Spektrum künstlicher Intelligenz hinzu.

  • Im Sozialen System arbeiten Teams über Zeitzonen, Kulturen und Sprachen hinweg. Wie im Beitrag zum PI Planning beschrieben oft nicht vor Ort, sondern in hybriden Settings. Missverständnisse sind an der Tagesordnung, Gruppendynamik multipliziert sich. Und weil Zeit ein besonders knappes Gut ist, nehmen wir uns zu wenig Zeit, um miteinander in Beziehung zu gehen. Zusammenarbeit ist aber maximal Voraussetzungsreich und bedingt miteinander in Beziehung zu gehen.

  • Wirtschaftlich erleben wir Volatilität, FOMO (fear of missing out) und enorme Geschwindigkeit in Technologie- und Marktzyklen. Globale Lieferketten zeigen uns auf, wie abhängig wir weltweit voneinander sind. Täglich findet da ein Verdrängungskampf statt und es ist nur logisch (wenn auch nicht zwingend richtig), dass Unternehmen sich und ihre Produkte stets neu erfinden wollen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele Führungskräfte in diesem Umfeld zu stabilen Messgrössen greifen. Das ist absolut verständlich, erzeugt es doch in einer Welt voller Veränderungen ein Gefühl von Stabilität, aber es ist nicht immer hilfreich.

Der Schein des Neuen

Der Druck, modern und anschlussfähig zu wirken, ist hoch. Daraus entstehen paradoxe Effekte:

  • Agile Zeremonien werden eingeführt, zusätzlich zu bestehenden Meetings. Eines der häufigsten Argumente gegen agile Arbeitsweisen ist, dass es zu viele Meetings mit sich bringt. Grundsätzlich ist das korrekt. Agilität lebt von Transparenz und diese wird unter anderem durch den Austausch in der Gruppe erreicht, also in vielen Meetings. Richtig umgesetzt können die bestehenden Meetings ersatzlos gestrichen werden.

  • Rollen werden umbenannt, ohne die zugrunde liegenden Entscheidungsprozesse anzupassen. Gerade mit der Einführung von Agilität wurden mit den Rollen Scrum Master und Product Owner viele Menschen verunsichert. Projektleitende mussten sich entscheiden, sind sie nun Scrum Master, Product Owner oder doch Team Coach. Es ist Teil unserer Geschichte der Arbeitswelt, dass wir uns regelmässig aufs neue mit neuen Rollen verwirren. Aktuell erleben wir das mit der Verbreitung von künstlicher Intelligenz erneut.

  • KPIs werden verfeinert, ohne zu prüfen, ob sie das Richtige messen. Wer misst, misst Mist, haben wir schon in der Physik gelernt. Dort (in der Physik) gilt dieser Merksatz, weil jede Messung das System dahingehen verändert, dass die Messung nur eine Wahrscheinlichkeit wiedergibt. In Organisationen ist es so, dass nahezu jede KPI optimiert werden kann. Dass dies zu lokaler Optimierung führt, liegt auf der Hand. Trotzdem sind KPIs enorm beliebt - und machen in wenigen Fällen ja auch durchaus Sinn. Vor allem dann, wenn sie keine Zahl sind, die es zu optimieren gilt, sondern ein Indiz für einen Zustand gibt.

Wie der Soziologe Stefan Kuehl schreibt:

„Die Auflösung von starren Hierarchien und genau abgegrenzten Zuständigkeitsrevieren schafft neue Unsicherheitszonen, eine Art Machtvakuum. Die verflüssigten Strukturen begünstigen die inneren Konkurrenzen und sind manchmal Nährboden für heftige Machtkämpfe.“

Das Neue bleibt so an der Oberfläche und reproduziert das Alte in neuer Verpackung.

Agilität als Haltung, nicht als Etikett

Wer uns kennt, weiss: Für uns ist Agilität kein Selbstzweck. Sie ist ein Zustand, vergleichbar mit Gesundheit. Es geht nicht darum, ein starres Ideal zu erreichen, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, sich möglichst schnell an veränderte Bedingungen anzupassen. Natürlich nicht einfach blind auf alles zu reagieren, sondern wohl bedacht und mit Effizienz.

Dazu gehören:

  • Inspect & Adapt: Pläne zu machen und sie regelmässig und kontrolliert anzupassen. Die Schwierigkeit liegt darin, die verschiedenen Perspektiven von langfristiger Ausrichtung versus kurzfristiger Planung gut balancieren zu können.

  • Continuous Learning: Fehler als Lernschritte zu begreifen (Fail ist dann ein Akronym für First Attempt in Learning). Noch direkter formuliert, wer keine Fehler macht, wiederholt nur bereits Erprobtes. Das ist nicht zwingend falsch, aber je nach Ziel halt weder innovativ noch nachhaltig.

  • Growth-Mindset: Den eigenen Weg zu finden, statt einem vermeintlichen Blue-Print zu folgen. Vielleicht hilft hier folgende Erkenntnis. Jedes Modell ist nur eine verkürzte Abbildung eines Zustandes, der einmal war. Das gilt ganz besonders für jedes Vorgehens-, Organisations- und Projekt-Modell. Wichtiger also die Einhaltung eines Blueprints ist das Verständnis über die Mechaniken eines Vorgehensmodells. Beispielsweise wieso es Retrospektiven gibt.

Agilität bedeutet also, eine Haltung einzunehmen, die Offenheit, Anpassungsfähigkeit und Zusammenarbeit fördert. Das ist eine Alternative zu starrem KPI-Denken oder blindem Gehorsam.

Wenn Messbarkeit zur Falle wird

Ursprünglich waren KPIs wertvolle Instrumente. Doch wir müssen uns bewusst werden, aus welcher Zeit diese Instrumente kommen. Auch hier verweise ich gerne nochmals auf den Beitrag von Niklas zum Thema Flow- versus Ressource-Effizienz. KPIs sind für die Optimierung der Ressourcen perfekt geeignet. In einer Fabrik in der in manueller Handarbeit am Fliessband gearbeitet wird, mag die Messung mittels KPIs zwar unmenschlich wirken, sie macht da aber unternehmerisch Sinn. In der heutigen Arbeitswelt sind wir aber zum einen hochgradig vernetzt und zum anderen mehrheitlich mit Wissensarbeit beschäftigt. Und in einem solchen System führt die Messbarkeit als alleiniges Kriterium für einen vermeintliche optimalen Zustand dazu, dass ein solches System kippt:

  • Teams werden nach Auslastung optimiert und verlieren an Sinn. Die Einzelnen Menschen innerhalb des Teams optimieren für ihre individuellen KPIs und verlieren den Blick für das grosse Ganze.

  • Velocity und Burndown Charts ersetzen den Dialog über Wert. Teams beginnen diese Zahlen zu optimieren, indem sie weniger Arbeit annehmen, oder die Arbeit nicht mit gleicher Qualität fertigstellen oder Scheinaufgaben erledigen, damit die Charts über die Zeit "gleich aussehen", KPIs erfüllt sind.

  • Retrospektiven fallen weg, weil sie in keinem Zeitreport auftauchen und/oder die Massnahmen aus den Retrospektiven zu viel Zeit wegfressen, die doch für das Produkt eingesetzt werden könnte.

  • Externe werden an der Menge gelieferten Outputs gemessen, statt an Wirkung und Qualität. Eine Folge davon ist Externe, die nicht den Erfolg eines Projektes im Auge haben, sondern die Erfüllung ihres Vertrages und unglückliche Kunden, die sich in unproduktiven Vertragsverhandlungen gefangen fühlen.

Das Paradoxe: Viele Führungskräfte wissen um diese Gefahr. Gleichzeitig stehen sie im Spannungsfeld zwischen Anerkennung, Bonusmodellen und kurzfristigen Erfolgslogiken.

Studienlage: Wenn Sinn fehlt, bröckelt das Fundament

Der jährliche Gallup Engagement Index zeigt seit Jahren: In der Schweiz haben rund 30 Prozent der Mitarbeitenden innerlich gekündigt. In Deutschland sind es noch mehr. Gründe dafür sind fehlender Sinn, mangelnde Autonomie und wenig Vertrauen in Führung.

Auch die ARTE-Dokumentation Arbeit ohne Sinn beschreibt eindrücklich, wie leere Rituale und ineffiziente Prozesse hochqualifizierte Menschen resignieren lassen.

Wenn Mitarbeitende innerlich kündigen, ist das nicht nur menschlich schmerzhaft, es ist auch betriebswirtschaftlich fatal. Hochqualifizierte benötigen oft Jahre, bis sie volle Wirkung entfalten können. Ihr Potenzial ungenutzt zu lassen, ist eine Verschwendung, die sich kaum ein Unternehmen leisten kann.

Wo Führung gefragt ist

Hier zeigt sich die zentrale Rolle von Führung. Gehen wir nochmals auf die drei Ebenen: Verhältnisse, Verhalten, Haltung ein:

  • Verhältnisse: Rahmenbedingungen und Strukturen, die die Führung gestaltet. Wir bezeichnen dies als Managementrolle. Gerne auch mit dem Verweis auf das Zitat von Edward Deming "Es ist die Aufgabe des Managements, das System zu optimieren".

  • Verhalten: Wie Menschen in diesem Rahmen agieren. Hier setzen wir auf Leadership. Also eine gesunde Balance von vorleben, vorangehen und anleiten resp. einfordern.

  • Haltung: Die innere Einstellung, mit der sie agieren. Als Führungskraft sind wir hier besonders gefordert. Zum einen bedeutet das die Arbeit an sich selbst und zum anderen die ganz herausfordernde Arbeit im 1:1 mit einer coachenden Haltung. (Nicht als Coach, sondern als Führungskraft mit einer entsprechenden Haltung!)

Führung bedeutet also nicht, Menschen zu kontrollieren. Sondern Verhältnisse / Räume / Wirkungsfelder zu schaffen (dürfen), in denen Teams wirksam werden können und wollen.

Wofür wir stehen

Wir schreiben diesen Beitrag nicht aus Kritiklust, sondern aus Überzeugung: Es gibt Alternativen.

  • Organisationen, die den Mut haben, sich zu reflektieren, gewinnen an Klarheit und Energie.

  • Führung, die zuhört und Rahmenbedingungen gestaltet statt nur zu reporten, macht einen Unterschied.

  • Teams, die Verantwortung übernehmen dürfen, können und wollen, entfalten ihr Potenzial.

  • Sinnstiftung wird und bleibt auch in technisch komplexen, regulierten Umfeldern möglich.

Die Einladung

Es kann sein, dass deine Organisation sich gerade wie Absurdistan anfühlt. Sinnlose KPIs führen zu konstanten Verunsicherungen und Veränderungen, die keinen Sinn ergeben. Absurdistan ist aber kein Schicksal. Es ist ein Muster, das wir jeden Tag hinterfragen können.

Wir können uns entscheiden für echte Veränderung, für Führung, die trägt, und für Zusammenarbeit, die Sinn stiftet.

Vielleicht beginnt das schon im nächsten Meeting, wenn wir uns fragen: Messen wir gerade das Richtige? Oder brauchen wir ein neues Gespräch darüber, was uns wirklich wichtig ist?