Unterschiedlichste Megatrends wie die Digitalisierung und speziell künstliche Intelligenz, der Klimawandel, die Alterung der Gesellschaft oder eine stetige Urbanisierung, um nur einige zu nennen, verändern unsere Welt in rasantem Tempo. Galt früher die Anpassungs-Logik: Starre und auf Effizienz getrimmte, «eingefrorene» Organisation -> Veränderung («Auftauen») -> neue starre, auf Effizienz getrimmte Organisation (neu «eingefroren»), so sind heutige Organisationen in einem stetigen «Semifreddo» Zustand. Dieser Semifreddo Zustand entsteht, weil Organisationen versuchen, bewährte Anpassungs-Logiken in einer völlig andersartigen Welt einzusetzen. Das Resultat: Ein nie aufhörender Change, welcher als Anpassungsfähigkeit missverstanden wird.
Echte Anpassungsfähigkeit, sprich Agilität auf verschiedenen Ebenen (Mensch, Team und Organisation), ist der Zustand, den viele heutige Organisationen anstreben. Dies, weil sie zunehmend realisieren, dass sie sich verändern müssen, um sich in einer volatilen, unsicheren, komplexen und ambiguen Umwelt schnell und erfolgreich den verändernden Kundenbedürfnissen anzupassen. Weg von Semifreddo. Hin zu echter Agilität.
Waren erfolgreiche Organisationen der letzten Jahrzehnte zumeist in Matrixstrukturen organisiert, setzen heute erfolgreiche Organisationen zunehmend auf das Prinzip der Selbstorganisation. Der bekannte Autor Frédéric Laloux spricht bei ersteren von orangen Organisationen und bei zweiteren von blaugrünen ("teal") Organisationen.
Orange Organisationen basieren auf dem Leistungsprinzip, sind wettbewerbsorientiert und gewinnmaximierend. Sie setzen auf Planung, Hierarchie und Kontrollsysteme (KPIs). Diese Organisationsform, entstanden im Kontext der Shareholder Value Logik, war in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich äusserst erfolgreich. Dies, weil sie ideal geeignet ist für komplizierte Umwelten (siehe Cynefin-Framework).
In solchen Umwelten, welche sich durch Stabilität und bekannte Ursache-Wirkungszusammenhänge auszeichnen, trumpfen Fachwissen, analytische Skills und mit der Zeit herauskristallisierte Best Practices. Diese Rezepte funktionieren, weil sie als Blaupausen in einer stabilen Welt replizierbar sind.
Die beste und erfolgreichste Führungsperson in einer solchen Umwelt ist also eine Person mit möglichst viel Facherfahrung, einem scharfen analytischen Verstand und dem grössten Erfahrungsrucksack. Der oder die durchsetzungsstarke und extrovertierte, sprich klassische Senior Executive oder Manager/in.
Blaugrüne oder lernende Organisationsformen basieren auf völlig anderen Prinzipien. Für orange Organisationen funktionierende Erfolgsrezepte greifen nicht mehr. Lernende Organisationen haben einen wandelnden Zweck und müssen aus diesem Grund wandelbar strukturiert und organisiert sein. Selbstorganisation hat sich hier als Erfolgskonzept herausgestellt und Ansätze wie Holokratie, Soziokratie 3.0 und kollegiale Führung sind im Rahmen dieser Bewegung entstanden und in einer stetigen Weiterentwicklung begriffen. Ideal geeignet sind diese Organisationsformen für komplexe Umwelten (siehe Cynefin-Framework). Komplexe Umwelten befinden sich in einem stetigen Wandel, sind per Definition nicht plan- und vorhersehbar, weil Ursache- und Wirkungszusammenhänge nicht durchschaubar sind. Es ist wie beim berühmten Schmetterlingseffekt. Ein Flügelschlag im Amazonas kann einen Sturm in Alaska auslösen (siehe Chaostheorie).
Wo keine klaren Lösungen existieren, entstehen zwangsweise Fehler. Diese als solche zu betrachten, ist lernhinderlich. Viel förderlicher ist die Perspektive, die sich stetige wandelnde Umwelt als Wachstumsmöglichkeit zu begreifen, doch dazu später mehr.
Die beste Führungskraft in einer komplexen Umwelt kann nicht mehr die Person mit dem grössten Fachwissen, dem schärfsten Verstand und der meisten Erfahrung sein. Es ist diejenige Person, die es am besten versteht, den Prozess der Lösungsentwicklung in diversen Teams so anzuleiten und zu ermöglichen, dass die beste – nicht die eigene – Lösung im Team entstehen kann (siehe auch Wisdom of the Crowds).
Neben der Unterscheidung zwischen komplizierten und komplexen Umwelten ist ein weiterer Punkt zentral für lernende Organisationen: Zielhomogenität. Nicht, dass dies nicht auch in der "alten" Welt wertvoll gewesen wäre. In der "neuen" Welt aber wird die Homogenität der Ziele einzelner Individuen in einem Team zu einer Voraussetzung für erfolgreiches Vorankommen. In traditionellen Organisationen wurde dieses Ziel einfach top-down vorgegeben und die Erreichung mit Kennzahlen gemessen und entsprechend honoriert ("Leistungsprinzip"). Individuelle Ziele waren so gesehen irrelevant. Fällt dieses explizit vorgegebene Ziel weg, wird es umso wichtiger, dass alle Individuen ihre Ziele transparent kommunizieren und man sich als Team auf ein Ziel einigt, da sonst die Gefahr besteht, dass nur noch Partikularinteressen vertreten werden und sich das Team in einem permanenten Kampf über die Deutungshoheit ("Meine Ziele sind die wichtigen und richtigen") aufreibt. Der Grundsatz hier heisst: "Alignment enables Autonomy".
Da in einer lernenden Organisation jede Person eine selbstverantwortlich agierende Führungskraft sein sollte, können die Begriffe Führungskraft und Mitarbeitende eigentlich austauschbar verwendet werden.
Wir werden nachfolgend den Begriff Führungskraft verwenden, weil ein(e) solche(r) Mitarbeiterin oder Mitarbeiter sich selbst als Minimalanforderung führen können muss (Selbstführung). Nachfolgend nun eine Liste mit den aus meiner Sicht wichtigsten Facetten der agilen Führungshaltung:
Als Führungskraft in einer lernenden Organisation muss ich Experte im Prozess sein. Ich bin also ein Moderator/Coach im Prozess der Lösungsfindung. Spannenderweise ist dies sowohl die Philosophie des systemischen Coachings, als auch die Philosophie agiler Methoden wie beispielsweise Scrum (Rolle Scrum Master). Scrum fixiert bspw. bewusst Zeit und Kosten und nicht den Scope (sprich: die "Lösung"). Wieso? Weil die Lösung in einer VUCA-Welt nicht genau vorhersehbar ist. Der Prozess ist dabei mit klaren Artefakten reglementiert und vom Scrum Master "nur" moderiert. Genauso geht auch das systemische Coaching vor: Fix sind die Sitzungszeiten und die eingebrachten Ressourcen. Das Ziel ist nicht den oder die Coachee von der eigenen (vermeintlich besten) Lösung zu überzeugen. Daher sollte ein guter Coach permanent seine eigenen Hypothesen hinterfragen und verwerfen. Der Coach moderiert ausschliesslich den Prozess, in welchem der oder die Coachee die eigene, nur ihr oder ihm erfahrbare, "beste" Lösung findet. Genauso sollte auch eine Führungskraft in einer lernenden Organisation vorgehen.
Der grösste Feind der agilen Führungskraft ist das eigene Ego!
Die erwähnten Eigenschaften sind nur einige Eigenschaften, welche wir für eine (Selbst-)Führungsaufgabe in einer agilen Organisation als zentral erachten. Leserinnen und Lesern, welche sich vertieft für diese Thematik interessieren, empfehlen wir Literatur zu humble leadership, servant leadership oder kollegialer Führung. Auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Haltung des systemischen Coachings erscheint uns hilfreich. Daneben sind Ansätze zur Selbstführung wie Mindfulness, Resilienz oder Methoden wie Getting Things Done oder Personal Kanban spannend.
Gute Lernreise!