dot.research - Eine Übersicht agiler Leadership Konzepte
Ich kann es eben doch nicht ganz lassen...Knapp ein Jahr ist es her, seit ich die Universität in meiner Position als Leiter des Competence Center Agile Transformation verlassen habe. Der Forschung habe ich jedoch nicht vollständig den Rücken gekehrt. Seitdem ich an wissenschaftlichen Beiträgen mitarbeiten kann, wenn ich will (und nicht muss), fällt mir die Arbeit leichter als je zuvor. Natürlich ist dies nur möglich, weil ich mit tollen Doktorierenden und Studierenden zusammenarbeite und diese bei der Umsetzung ihres Forschungsprojekts unterstützen darf.
Doch wieso erzähle ich das überhaupt? Mein Forschungsinteresse liegt, nicht ganz zufällig, ebenfalls im Bereich von (organisationaler) Agilität. Und auch wenn wir ein Beratungsunternehmen sind und oft nur für Problemlösung gezahlt werden, schadet es vermutlich nicht, ab und an mal den Blick über den Tellerrand auf die "andere Seite" - spricht die akademische Welt - zu werfen. Denn auch dort beschäftigen sich kluge Köpfe mit dem Thema Agilität - wenn auch nicht immer mit dem Fokus der unmittelbaren Problemlösung.
Daher habe ich mir vorgenommen, in Zukunft in unregelmässigen Abständen spannende Forschungsprojekte und deren Ergebnisse vorzustellen. Einerseits, um den Autoren eine Plattform zu geben, andererseits aber auch, um die Insights mit der dot Community zu teilen. Beginnen möchte ich dabei mit einem Beitrag zum Thema "Agile Leadership", der gemeinsam mit Michael Greineder, seines Zeichens Doktorand am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen, entstanden ist.
Das Führungsverständnis im Laufe der Zeit
Bevor wir zum Thema der Agilen Führung kommen, möchte ich vorab noch einen ganz kurzen Abriss über das traditionelle Führungsverständnis sowie dessen Entwicklung in der Wissenschaft geben. Wie eingangs erwähnt beschäftigen sich Forscher bereits seit der ersten Stunde der Forschungsdisziplin "Betriebswirtschaft" mit dem Gebiet der "Führung". Dabei galt der Fokus zu Beginn vor allem den Charaktereigenschaften und der angeborenen Persönlichkeit als entscheidendem Unterschied. Dies konnte aber nicht eindeutig bestätigt werden, sodass Führung mehr als ein sozialer Prozess verstanden wurde und dadurch Verhaltensweisen - und nicht mehr Charaktereigenschaften - ins Zentrum rückten. Zweck des Führungsprozesses war die Erreichung gemeinsamer Ziele oder Ergebnisse, die, wie Kotter (1989) betonte, "zwangsfrei" erreicht werden sollten. Damit dies gelingt, wird eine gemeinsame Vision benötigt.
“Leadership is an influencing process aimed at goal achievement” - Ralph Stogdill (1950)
Dass dieser soziale Prozess und entsprechende Verhaltensweisen nicht immer gleich ablaufen und von vielen kontextuellen Faktoren abhängen - individuelle Neigungen und Tendenzen, Beziehungen zwischen Menschen, Umfeld in der Organisation, um nur ein paar Beispiele zu nennen - erscheint irgendwie klar. Der Fachbegriff hierfür nennt sich Kontingenztheorie (oftmals synonym mit Situativem Führen gleichgesetzt) und wurde in den 1960er Jahren von Fred Edward Fiedler entwickelt. Die Kontingenztheorie besagt kurzgefasst, dass der Führungsstil (aka Verhaltensweisen) nicht komplett von der Persönlichkeit (aka Charakteristika) getrennt werden kann und eine Führungskraft deshalb nur sehr schwer für neue Situationen ausgebildet werden kann. Der grosse Kritikpunkt an Kontingenztheorien ist jedoch, dass ihre Validität nicht geprüft werden kann, da viele Begriffe bzw. Variablen in der Theorie so formuliert sind, dass man sie schlichtweg nicht messen und damit auch nicht empirisch prüfen kann. Das Modell kann also keine konkreten Vorschläge zur Verbesserung des Führungsverhaltens machen.
Das in traditionell und hierarchisch strukturierten (Gross-)Unternehmen etablierteste Konzept ist die transaktionale Führung, mit der wohl bekanntesten Ausprägung Management by Objectives, inklusive dem allseits beliebten Jahresgespräch und der dazugehörigen Zielvereinbarung. Das Beispiel verdeutlicht sehr gut den Kern dieses Konzeptes. Führungskräfte motivieren ihre Mitarbeitenden primär über Ziele und Aufgaben, für welche die Mitarbeitenden bei Erfüllung finanzielle oder immaterielle Vorteile erhalten - es ist also ein Austausch (eine Transaktion).
Seit Mitte der 1990er Jahre wird sich vermehrt mit dem Konzept der transformationalen Führung beschäftigt. Erstmals 1978 erwähnt, beruht transformationale Führung auf der Fähigkeit von Führungskräften, ihre Vorbildfunktion überzeugend wahrzunehmen. Die Mitarbeitenden werden durch dieses Verhalten intrinsisch motiviert und zur Veränderung (Transformation) ihres eigenen Verhaltens und ihrer Lern- und Leistungsbereitschaft inspiriert - weg von individuellen und egoistischen Zielen, hin zu kollektiven, grösseren Zielen.
Agile Leadership
Doch was genau hat das Ganze nun mit Agile Leadership zu tun? Bevor wir dazu kommen, möchte ich versuchen, auch hier eine kurze Definition zu geben. Wenig überraschend gibt es auch hier kein eindeutiges Verständnis. Ich möchte an dieser Stelle nun ein paar ausgesuchte Definitionen vorstellen, welche sich natürlich nicht fundamental voneinander unterscheiden, jedoch auf verschiedene Aspekte fokussieren.
Einige Forschende verstehen Agile Leadership als eine dynamische Denkweise bzw. Haltung, die die Veränderung als Dauerzustand begreift. Daher überrascht es nicht, dass oftmals die Begriffe Leadership Agility oder Agile Leader mehr oder weniger synonym verwendet werden.
Agile Leadership ist die Fähigkeit, diverse und fragmentierte Organisationen zu steuern und gleichzeitig Stabilität und Kohärenz in einem sich verändernden Umfeld zu gewährleisten. McKenzie & Aitken, 2012
Wie diese Definition zeigt, spielt der Wandel und die Unsicherheit als Normalzustand eine grosse Rolle und wird auch von anderen Forschenden als Eigenschaft für Führungskräfte beschrieben.
Agile Leader sind beweglich, flexibel und fähig zur Transformation von Menschen, Teams und Prozessen. Sie begreifen Führung als Rolle, die definierte Aufgaben beinhaltet, anstatt als Position oder Funktion. Svenja Hofert, 2016
Im Kontrast zu dieser Definition verstehen zahlreiche andere Publikationen Agile Leadership als die Art und Weise, wie Führung gestaltet wird. An dieser Stelle entsteht dann auch die Verknüpfung zu Arbeitsprinzipien wie Scrum, Kanban, oder Lean Management, welche in unterschiedlich starkem Ausmass auf Selbstorganisation setzen. Daher wird mit Agile Leadership oftmals auch Führung in selbstorganisierten Teams oder Organisationen mit sehr flachen hierarchischen Strukturen assoziiert. Was auf den ersten Blick nicht miteinander vereinbar scheint, hat aber sehr wohl seine Daseinsberechtigung. Führung wird auch in selbstorganisierten Teams benötigt - die Aufgaben und Inhalte von Führung ändern sich jedoch. Anstatt Delegation von Arbeit und Entscheidungsmacht, stehen die Motivation und Entwicklung agiler Teams, die Steuerung und Ausrichtung der Aktivitäten auf den Zweck und die Ziele des Unternehmens, die Entwicklung agiler Strukturen und der Aufbau einer agilen und den Wandel fördernden Unternehmenskultur im Zentrum.
Agile Leadership ist ein Überbegriff für Führungspraktiken, die das organisationale Lernen und Agilität vor dem Hintergrund laufender Veränderungen in der Umwelt unterstützen.
Es wird recht bald klar, dass Agile Leadership als ein Überbegriff für eine Vielzahl von Leadership-Stilen und -Praktiken für die Führung in Organisationsstrukturen verstanden werden kann, welche die Adaption und Innovation in einer sich stetig ändernden Umwelt fördern und auf die Führung von zunehmend selbstorganisierten Teams ausgelegt sind. Mit diesem Grundverständnis begleiten wir bei dot bereits seit einiger Zeit eine Vielzahl an Kunden - von der Führungskraft bis zu ganzen Teams im Bereich Agile Leadership.
Eine Übersicht Agiler Leadership Konzepte
Kommen wir nun zu des Pudels Kern. Das Themenfeld rund um Agile Leadership ist relativ neu und daher auch noch nicht mit festen Begriffen besetzt. Zudem habe ich oben erläutert, dass Agile Leadership ein Überbegriff (ein Umbrella Term) ist und darunter, zumindest theoretisch einige weitere Konzepte Platz haben. Da liegt es natürlich in der Natur der Sache, dass verschiedenste Organisationen und Individuen das Thema mit einem markigen Begriff besetzen möchten, um von der damit einhergehenden Strahlkraft und Relevanz zu profitieren. Und so ist es denn auch wenig überraschend, dass es eine Vielzahl von neuen Führungskonzepten und -Begriffen gibt, die in Wissenschaft und Praxis genutzt werden. Nach kurzer Zeit bemerkt man dabei aber, dass diese Begriffe oft nicht sehr trennscharf sind und sich überschneiden, sodass sich durchaus die Frage aufdrängt: Muss das denn sein?
Meine Antwort auf diese Frage lautet: "Nein, muss es nicht", aber ich verstehe natürlich die Hintergründe dieses Vorgehens und kann das irgendwo auch nachvollziehen. Des Weiteren haben viele Begriffe einzigartige Nuancen, die ihre Existenz dann doch wieder rechtfertigen. Anstatt, wie oft üblich, nun jetzt noch einen Begriff zu definieren (der natürlich besser und genauer ist als alle anderen), möchte ich vielmehr ein paar der bekannteren Konzepte vorstellen und so damit hoffentlich für mehr Klarheit sorgen.
- Servant Leadership. Starten wir mit einem der wohl derzeit populärsten Begriffe. Der Begriff Servant Leadership wurde 1970 von Robert Greenleaf geschaffen. Wie der Name bereits erahnen lässt, ist der Kern dieses Konzeptes, dass Führung nicht als überstellte Position und Statussymbol betrachtet wird, sondern als Gelegenheit, dem Team zu dienen. Auf diese Weise unterstützt der Servant Leader das Team und hilft dabei, das volle Potential des Teams auszuschöpfen. Obwohl der Fokus dieses Leadership Konzeptes zuerst auf dem Team und dann auf der Organisation als Ganzem beruht, profitiert die Organisation - und zwar indirekt von der Performance des Teams. Seine Wurzeln hat Servant Leadership im Charismatic Leadership, welches eine Führungsperson als charismatische Persönlichkeit beschreibt und das Team darüber steuert, dass es sich mit der Person identifiziert und ihr vertraut.
- Emergent Leadership. Emergent Leadership (auch verteilte Führung genannt) beschreibt das Hervortreten einzelner Gruppenmitglieder innerhalb von selbstorganisierten Teams, die im Rahmen der Zusammenarbeit informell Führungsfunktionen übernehmen. Folglich wird Führung als ein Prozess der Bedeutung und Orientierung innerhalb einer Gruppe konzeptualisiert. Emergent Leadership argumentiert, dass durch den natürlichen Auswahlprozess das qualifizierteste Gruppenmitglied Verantwortung übernimmt und es dadurch erfolgsversprechend ist. Darüber hinaus wird angenommen, dass die Personen, welche die Arbeit verrichten (die Teammitglieder), am besten wissen, wer für die Übernahme von Verantwortung geeignet ist.
- Shared Leadership. Wie der Name bereits suggeriert, wird die Führungsverantwortung bei Shared Leadership auf mehrere Teammitglieder verteilt. Zentral hierbei sind die Interaktion zwischen den Teammitgliedern und der gegenseitige Einfluss sowie das Verfolgen gemeinsamer Ziele, was schliesslich zu gesteigerter Team- und Unternehmensperformance führen soll. Eng verwandt mit dem Begriff von Shared Leadership bzw. eine spezielle Form, ist das Konzept des Rotated Leadership, bei dem die Teilung der Verantwortung festen Regeln unterworfen ist und die Führung im Team zeitlich oder bei bestimmten Trigger-Events wechselt.
- Visionary Leadership. Beim Konzept des Visionary Leadership steht der gewünschte zukünftige Organisationszustand im Fokus, welcher als gemeinsame Basis dient, die Umsetzung zu ermöglichen. Dadurch sollen alle Individuen persönlich motiviert und angeregt werden, persönliche Verantwortung für die Erreichung zu übernehmen. Ein der Visions-basierten Führung nahestehendes Konzept ist Spiritual Leadership, bei dem der Fokus aber deutlich stärker auf der Ideologie und den Vorstellungen persönlicher Werte liegt.
- Self Leadership. Selbstführung kann als eine umfassende Perspektive der Selbstbeeinflussung verstanden werden, um sich zur Erfüllung von natürlich motivierenden Aufgaben zu führen und sich selbst zu managen, um Aufgaben zu erledigen, die nicht natürlich motivierend sind. Im Kontext von Teams wird die Selbstführung als Ausmass beschrieben, zu dem ein Team die Freiheit und Autorität hat, sich unabhängig externer Kontrolle zu führen.
Neben diesen fünf Strömungen existieren in der Forschung eine ganze Reihe weiterer Konzepte, die mehr oder weniger anerkannt (und verbreitet) sind.
Leadership Konzept | Definition |
Promise-based Leadership | Die Befähigung des Einzelnen, innerhalb der Organisation wie ein echter Unternehmer zu handeln - Gelegenheiten zu erkennen, die erforderlichen Ressourcen zusammenzustellen, um Gelegenheiten zu ergreifen und sich auf diesem Weg flexibel anzupassen. |
Digital Leadership | Fokus auf Transformation, insbesondere Digitalisierung, um den strategischen Erfolg der Digitalisierung des Unternehmens und sein geschäftliches Ökosystem sicherzustellen. |
Complexity Leadership | Führungsdenkweise, die sich darauf fokussiert, Lern-, Kreativitäts- und Anpassungsfähigkeit von komplexen adaptiven Systemen im Kontext wissensproduzierender Organisationen zu ermöglichen. |
Executive-as-a-Coach | Der Grundgedanke ist, dass Führungskräfte in vielen Situationen eher wie Coaches agieren sollten. Dazu soll Führungskräften diese Kompetenz vermittelt werden, damit diese als solche in der Organisation agieren. Grosse Überschneidung zu Servant Leadership. |
Entrepreneurial Leadership | Fokus auf unternehmerisches Handeln (siehe auch Promise-Based Leadership) mit dem Ziel, visionäre Szenarien zu schaffen, die dazu dienen, eine passende Besetzung von Personen zusammenzustellen, welche sich durch die Vision inspirieren lassen und im Sinne des Teams handeln und Wert generieren. |
Spiritual Leadership | Leadership-Stil, der Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen umfasst, die notwendig sind, um sich selbst und andere intrinsisch zu motivieren. Dazu gehört zum einen das Schaffen einer Vision, die zum Zweck hat, den Mitgliedern der Organisation ein Gefühl der Zugehörigkeit und einen Sinn zu geben. Zum anderen umfasst Spiritual Leadership die Entwicklung einer Kultur, die auf altruistischer Liebe basiert, in der Führungspersönlichkeiten und Anhänger echte Fürsorge, Interesse und Wertschätzung sowohl für sich selbst als auch für andere erfahren. |
Welches Leadership Konzept ist denn nun das "Beste"?
Es wäre schön, wenn ich an dieser Stelle eine klare Empfehlung aussprechen und sagen könnte, dass es einen allen anderen überlegenen Stil gibt, doch das ist schlichtweg nicht möglich. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen fokussieren die verschiedenen Konzepte auf unterschiedlichsten Dingen, z. B. wie Führung interpretiert werden sollte, welches vor allem in Servant Leadership stark fokussiert wird, über den Fokus, wie Führung entsteht (Emergent Leadership), oder auch an Personen gekoppelt ist (Shared Leadership).
Vielmehr als dass diese Konzepte sich rivalisierend gegenüberstehen, also in einer "entweder oder" Beziehung zueinander stehen, ist es so, dass diese durch ihren unterschiedlichen Fokus durchaus komplementär zueinanderstehen und miteinander verbunden werden können. Man kann also durchaus ein "Servant Leader" in einem "Shared Leadership" Ansatz sein.
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