dot.intern Eindrücke aus einem Waisenhaus in Tansania

Tobias Ellenberger
14. Juli 2022

Den ganzen Mai durfte ich in Tansania verbringen und eine Auszeit nehmen von den vielen Projekten, Kunden und Interaktionen mit euch: Fokus auf Herzensthemen. dot ist mir wichtig, ich investiere pro Woche sicherlich 60 Stunden in dieses Herzensthema - es gibt aber noch andere wichtigen Themen, die mich seit jeher beschäftigen. Meine Leidenschaft für die Berge dürfte inzwischen einigermassen bekannt sein. Auch begeistere ich mich für Politik und Geschichte oder Biologie. Als junger Erwachsener wusste ich lange nicht, in welche Richtung sich mein beruflicher Weg entwickeln würde. Diese Offenheit und Neugierde von früher habe ich mir bis heute bewahren können. Mit dem Kilimanjaro - zum Bergsteigen - und dem Waisenhaus in Dareda - zum Lernen -  anerbot sich mir eine Reise nach Tansania sozusagen auf dem Holztablett.

 

Dareda

Voller Spannung und Neugierde bin ich also nach der Besteigung des Kilimanjaro in Dareda angekommen. Dareda ist ein kleines Dorf im Buschland von Tansania. Der nächste grössere Ort ist Babati, die nächst grössere Stadt Arusha. Als mir Melanie das erste Mal erklärte, wo Dareda und das Waisenhaus liegen, wusste ich danach nur, dass es auf Google Maps eine Strasse gibt, die nach rechts abbiegt und das Waisenhaus von dort noch ca. 1 Stunde entfernt auf einer „Strasse” nach links liegt. Google Maps ist sowieso lustig. In Dareda gibt es laut Google Maps zwei Einkaufszentren, verschiedene Guest Houses, einen kleinen Shop, den Mjomba Fashion Store, es fährt ein öffentlicher Bus vorbei, und bei Hans Super Stationary kann ich mir Schreibwaren kaufen. Klingt doch alles sehr westlich.

Dass in diesem kleinen Dorf mitten in Afrika ein vierjähriges Kind nackt auf einer Müllhalde lebt und sich mit einem Holzstück „Fressfeinde” vom Leibe hält, weil es das gefundene Papier selber „essen” möchte. Sowas erwartete ich nicht zu erfahren.

Dareda, Tansania


Dies ist die Geschichte von Matthias

Als ich die Geschichte niederschreibe, habe ich wieder feuchte Augen. Es wie mit allem im Leben. Erst die Abstraktion der Wirklichkeit macht sie einigermassen ertragbar. Nun stehe ich also da und Matthias mir gegenüber. Ein schüchterner Junge von heute vierzehn Jahren. Seit zehn Jahren darf er seine Zukunft ohne Würmer in den Füssen und ohne Kampf ums Überleben, sondern in einer liebevollen Familie in Angriff nehmen.
Matthias war eines der ersten vier Kinder, dass vor rund zehn Jahren durch das Waisenhaus aufgenommen wurde. Ich denke, es ist nicht übertrieben, wenn ich schreibe, dass Matthias heute nicht hier wäre. Sicher wäre er kein vierzehnjähriger junger Mann, der zu seinen „Geschwistern” schaut und in der Schule richtig fleissig an seiner Zukunft arbeitet. Als Matthias aufgenommen wurde, konnte er kein Wort Swahili.
In einem Land mit 125 unterschiedlichen Sprachen (nicht Dialekten: Sprachen!) ist Swahili die offizielle Landessprache von Tansania. Mehr als 80 Millionen Menschen weltweit sprechen Swahili. Wer im Busch von Afrika aufwächst und nicht in den Genuss von Kindergarten und Schulen kommt, lernt diese Sprache nicht. In Süd-Somalia und im Norden von Mosambik gibt es Muttersprachler und in grossen Teilen von Ost-Afrika ist Swahili die am meisten verbreitetste Verkehrssprache. Swahili sollte man folglich beherrschen. Klar gibt es verwandte Bantusprachen die helfen, einen Teil zu verstehen, aber es ist mitunter so, wie wenn ein Basler versucht, einen Walliser aus dem Goms zu verstehen, also mehr schlecht als recht.
Matthias konnte sich vor rund 10 Jahren nicht wirklich verständigen. Wie auch, wenn er mit vier Jahren auf der Strasse gefunden wurde. Man kann man sich nur vorstellen, von wo er gekommen ist. Später hat man seine Mutter gefunden. Sein Vater ist an AIDS gestorben. Seine Mutter, damals schwerkrank, war mit HIV am Kämpfen und Alkoholikerin. Auf die Frage, ob sie ihren Mattias vermissen würde, wenn er im Waisenhaus wäre, kam ein lapidares „nein, ich habe ja noch andere Kinder”. Ich möchte diese Aussage einer Mutter die ums überleben kämpft gar nicht verurteilen. Sie zeigt einfach auf, wie wenig Liebe Matthias wohl in seinen Jungen Jahren erfahren durfte.

Dareda, Tansania

 

Wenn das Urvertrauen fehlt

Die ersten Jahre sind für Kinder die nachhaltig prägendsten. In der Beziehung mit unserem Umfeld entwickeln wir, was wir später als Urvertrauen bezeichnen. Selbstbewusste Menschen, die auch in der totalen Krise stabil bleiben und auch nach dem härtesten Niederschlag wieder aufstehen, haben dieses Urvertrauen entwickeln können. Matthias, Innocent, Emanuela und Lucy nicht. Ihre Eltern waren nicht in der Lage, ihre Kinder zu unterstützen. AIDS grassiert immer noch heftig in Afrika. Auch wenn wir im Westen unsere Augen und Ohren gerne verschliessen würden: alle Kinder im Waisenhaus haben mindestens einen Elternteil aufgrund von AIDS verloren.
Innocent wurde von seiner schwer kranken Mutter betreut. Sein Vater ist seit Jahren verschwunden. Wohin und weshalb ist nicht bekannt. Seine an HIV schwer erkrankte Mama konnte sich nicht mehr um Innocent kümmern und hat darum gebeten, dass er im Waisenhaus aufgenommen wird. Immer wenn es ihr Gesundheitszustand zulässt kommt sie ihn besuchen. Innocent, heute dreizehn, nässt noch das Bett in der Nacht. Niemand im Waisenhaus hänselt ihn deswegen. Alle haben ihre Geschichten und verstehen ihn.
Emanuela wurde als typisches Hungerkind gefunden. Geblähter Bauch, dünne Ärmchen und Beine. Grosse Augen. Heute ist sie ein aufgewecktes Mädchen, dass voller Energie durchs Leben hüpft. Genau gleich wie Lucy, ihre grosse Schwester, die den Kids im Waisenhaus tanzen beibringt und bereits eine grossartige Hilfe im Haushalt ist. Vor zehn Jahren waren das die ersten vier Kinder.

LISO Tansania

Gegründet wurde das Waisenhaus von vier Menschen aus Deutschland, die Afrika bereist haben. Mit offenen Augen und einem ehrlichen Interesse für die Menschen und die Kultur vor Ort. Die Schicksale der Kinder liessen damals genauso wenig kalt wie heute, und so haben sich die vier überlegt, welchen Beitrag sie leisten könnten, um eine Veränderung herbei zu führen. Ihr Beitrag war die Gründung des Vereins LISO Tansania.
Heute leben neun Kinder im Waisenhaus in Dareda und drei weitere, die unterstützt werden, sind in einem Behindertenheim. Ein solches Projekt lässt sich natürlich nicht alleine aus Deutschland vorantreiben, und so sind es in Dareda aktuell fünf Erwachsene, die vor Ort die Betreuung, das Kochen und die Erziehung verantworten. Der Verein hat also neben den 12 Kindern auch für fünf Erwachsene eine Zukunft erschaffen.

Dareda, Tansania

Was hat sich an der grundlegenden Situation in Tansania und konkret in Dareda verändert?

Durch die Arbeit des Vereins wurde die Renovation der Schule ermöglicht. 900 Kinder gehen heute in eine Schule, deren Räume nicht nur Elektrizität, sondern auch dank hellen Wänden besseres Licht haben. 900 Kinder, die von 17 Lehrerinnen und Lehrer betreut werden gehen hier zur Schule - darunter auch ein paar Kinder aus dem Waisenhaus - zum Beispiel Maria die seit wenigen Jahren auch im Waisenhaus sein darf. Maria ist ein aufgewecktes Mädchen, dessen vier Geschwister gleich nebenan wohnen. Direkter ist die Arbeit und das Wirken des Waisenhauses nicht spür- und sichtbar. Die vier Geschwister von Maria sind fast jeden Tag auf dem Grundstück des Waisenhauses. Jeden Tag die gleichen Kleider. Keine Schuhe. Kein Kindergarten. Keine Schule. Keine Bildung. Auf dem Abstellgleis. Die Zukunft für die vier ist ziemlich beschränkt. Und daneben ihre Schwester Maria, die jeden Morgen ihre Schulkleider und Schuhe anzieht und freudig strahlend zur Schule gehen darf, am Mittag heimkommt und wieder ihre Alltagskleider und Schuhe anzieht. Maria strahlt und lacht oft - es ist ein schmerzhafter Kontrast zu den vier Geschwistern, die jeden Tag um Aufmerksamkeit betteln. Marias Geschwister stehen für die vielen Kinder, die so viel Potential hätten, aber niemanden, der ihnen den Weg ebnet und niemanden, der ihnen hilft, ein Urvertrauen zu entwickeln. Sie helfen sich selbst. Der vierjährige Bruder trägt seine anderthalb jährige, weinende Schwester herum und schaut, das die dreijährige Schwester nicht verloren geht. In einem Land, wo sich Mütter teilweise nur mit Prostitution über Wasser halten können, ist es irgendwie verständlich, dass so viele Kinder auf der Strasse leben. Gibt es den keine Verhütung? Mal abgesehen von den religiösen Hürden ist Verhütung halt auch einfach teuer. Und so wird Maria wohl noch einige Geschwister bekommen, weil die Mutter irgendwie versucht, Geld für ihre Familie zu verdienen. Marias Vater ist seinerseits bereits an AIDS verstorben.

Und weshalb können Marias Geschwister nicht ins Waisenhaus?

Die Gründe dafür sind vielfältig aber am einleuchteten ist für mich, dass das Waisenhaus nur so viele Kinder aufnimmt, für welche es auch eine Zukunft garantieren kann. Das bedeutet, die Finanzierung bis und mit Sekundarstufe ist sichergestellt. Damit verbunden die Kosten für Kleidung, Essen, Betreuung sowohl in medizinischer als auch erzieherischer Ebene und eben auch die Kosten für die Schule. Die Institution kann keine Kinder aufnehmen und nach wenigen Jahren sagen „Sorry, kein Geld mehr”.

Wenn wir ja sagen, dann wollen wir ja sagen für eine Zukunft.

Und dieses Ja sagen ist richtig schön; es bedeutet aber auch Nein sagen zu müssen. Nein, zu den Geschwistern von Maria und Nein, zu hunderten anderen Kindern, deren Zukunft ungewiss ist.

Ich für meinen Teil habe Ja gesagt und bin Mitglied vom Verein geworden. Ich bin mächtig stolz darauf, dass wir von dot consulting unser Weihnachtsgeld gespendet haben und möchte mich persönlich noch stärker engagieren.
Zum Beispiel mit einem solchen Bericht wie hier.

Natürlich würde ich sehr gerne abschliessen mit der Frage: möchtest auch du den Verein LISO Tansania unterstützen? Aber ich glaube, das soll nicht deshalb passieren, weil dich meine Geschichte berührt hat, sondern weil du überzeugt davon bist, dass durch deine Unterstützung etwas Gutes entstehen kann. Das ist die Idee hinter der Unterstützung durch den Verein LISO.

Dareda, Waisenhaus

Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit. Ich hoffe ich konnte dir einen kleinen Einblick geben, weshalb mich die Zeit im Waisenhaus so sehr berührt hat. Wer weiss, vielleicht sitzen wir uns bald in einem Café in Zürich gegenüber, rätseln darüber wieso in Tansania Kaffee angebaut wird, aber niemand Kaffee trinkt und unterhalten uns über deine Erfahrungen mit den menschlichen Schicksalen dieser Erde.


Herzlich, Tobias

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