dot.coaching - Wieso sich Gruppen mehr zutrauen sollten und dies nichts mit Vertrauen zu tun hat.

7 Minuten Lesezeit
02. April 2024
dot.coaching - Wieso sich Gruppen mehr zutrauen sollten und dies nichts mit Vertrauen zu tun hat.
11:54

Vertrauen ist das Schlagwort in Organisationen und speziell in Teams. Wir müssen einander vertrauen, damit wir miteinander umgehen können. Was wäre, wenn wir euch aufzeigen, dass es nicht um Vertrauen, sondern um Zutrauen geht? Wenn wir euch befreien könnten von der Schwere des Wortes Vertrauen? Wir mit mehr Leichtigkeit in die Teamarbeit gehen könnten?

Dieser Artikel zeigt dir ein Modell, das wir von Prof. Dr. Olaf Germanis gelernt haben und wir teilen mit dir unsere Erfahrungen und den Einfluss auf unsere Arbeit, den dieses Modell hat.

Vertrau mir doch!

Inhaltsbild - Kletterin frei stehend in Wand

Vertrauen ist das Schlagwort der Stunde. Es geht um den “vertrauensvollen Umgang mit Daten”, um das “Vertrauen in deine Vorgesetzten oder dein Unternehmen” oder den “Vertrauensvorschuss”, den ich als Führungskraft gegenüber meinem Team investieren soll. Vertrauen ist zu einer wichtigen Komponente der Zusammenarbeit geworden - oder schon lange gewesen. Doch geht es tatsächlich immer um ein und dasselbe Vertrauen?

Nehmen wir das extreme Beispiel einer Geiselnahme und fokussieren wir auf die Menschen, die als Eingreifgruppe versuchen die Situation möglichst gewalt- aber auch schadensfrei zu überstehen. Bei einer Geiselnahme geht es für die Mitglieder der Eingreifgruppe im klassischen Narrativ darum, das eigene Leben den Partnern innerhalb der Eingreifgruppe anzuvertrauen. Darauf zu vertrauen, dass diese im richtigen Moment die richtigen Entscheide fällen und das Richtige tun. Oder zumindest die Fehler soweit einzuschränken, dass mir kein Schaden entsteht. Es geht also um ein grundsätzliches Vertrauen. Doch in was? In die anderen Menschen oder deren Fähigkeiten? Eine Person, die solche Situationen schon mehrfach erlebt hat, war zunächst über das hier beschriebene Modell irritiert, doch nach einem Tag intensiver Reflexion zum Punkt gekommen, dass es bei der Zusammenarbeit innerhalb einer spezialisierten Eingreiftruppe tatsächlich nie um personales, bzw. personenorientiertes Vertrauen ging. Stattdessen geht es um die perfekte Koordination des Zusammenspiels, wenn in der konkreten Situation der Scharfschütze im richtigen Moment den Täter neutralisieren muss, während ich diesen Täter bis dahin hinhalten muss. Aber wenn es nicht um Vertrauen geht, worüber reden wir dann?

Modelle erklären Perspektiven - und nicht die Welt

(Abbildung 9: Das komplette Vertrauensmodell) Geramanis, 2024 S. 89 im Buch "Vertrauen und Vertrautheit in Organisationen"Abbildung 9: Das komplette Vertrauensmodell) Geramanis, 2024 S. 89 im Buch "Vertrauen und Vertrautheit in Organisationen"

Wer dot kennt weiss, dass wir gerne in Modellen arbeiten und unsere Arbeit gerne in Modellen erklären. Modelle sind immer eine Abstraktion, Verkürzung der Wirklichkeit und somit per Definition nie vollständig. Wäre es umgekehrt, hätten wir als Menschheit schon lange das alles erklärende Weltmodell. Dem ist aber nicht so und wird auch nie so sein. Die Natur von Modellen ist eben die Abstraktion, die Verkürzung, die Reduzierung auf wesentliche Aspekte. Insofern gilt der schöne Satz:

Die meisten Modelle sind falsch, aber nützlich.

Genauso verhält es sich mit dem folgenden Modell. Es versucht die Begriffe Vertrauen, Zweifel, Misstrauen und weitere in einen gemeinsamen Kontext zu legen.

Das Dilemma der Fremdheit

Inhaltsbild - Berglandschaft und einsamer Wanderer

Fremdheit ist das, was wir empfinden, wenn wir versuchen, uns in neuen Situationen zurecht zu finden. Das neue Team, der neue Sportverein, der neue Arbeitgeber, der erste Workshop, der erste Tag in der neuen Weiterbildung. Es gibt viele Situationen, in denen wir mit neuen Menschen in Kontakt treten und dem Phänomen der Fremdheit unterliegen.

Allem Anfang liegt ein Zauber inne.

Wenn es bloss nicht so schwer wäre, diesen Zauber zu geniessen. Oft sind wir absorbiert von den vielen Eindrücken, versuchen herauszufinden, was geht und was nicht geht. Versuchen zu verstehen, wer die Macht innehat, wo die Gruppierungen sind, die zusammengehören und wen man vielleicht sogar attraktiv findet. Meist ganz unbewusst passiert das. Fremdheit ist eine der unvermeidbaren Tatsachen des Lebens. Die Frage stellt sich, was wir in diesen Zustand der Fremdheit überhaupt ausrichten können? Sehr oft agieren wir dann über ökonomische Treiber. Wir tauschen Ware gegen Geld, Zeit gegen Geld oder umgekehrt. Bedeutet, dass wir durch ökonomische Faktoren überhaupt zusammenkommen, wir in einen ökonomischen Tausch gehen, der uns zunächst in dieser Fremdheit zu handeln erlaubt, und gleichzeitig die Beziehung versachlicht. Die Frage ist folglich nicht, ob es Fremdheit gibt oder nicht, sondern wie wir damit umgehen.

Im Umgang mit der Fremdheit leiten uns zwei gegensätzliche Kräfte, Kontrolle oder Ignoranz. Selten wirklich gesteuert, oft ganz unbewusst versuchen wir die unbekannte Situation zu kontrollieren. Der Autor zum Beispiel erklärt dann gerne Modelle – das schafft erstmal Sicherheit. Andere versuchen über einen anderen Weg Einfluss auszuüben, sich anderen Menschen anzuschliessen oder Komplimente zu machen. Im soziometrischen Model von Schindler lässt sich Fremdheit in der Phase “Menge” einordnen. Das Hauptmerkmal einer Menge ist das kontaktlose Nebeneinander der Menschen, die gefangen sind vor der Furcht vor den “Anderen”, einer Projektion, die auch ein wenig gebunden ist im individuellen Narzissmus. Es ist nur logisch, dass wir mit Kontrolle oder Ignoranz versuchen mit der Situation umzugehen – schliesslich verfügen wir noch nicht über tragfähige Beziehungen. Zum Glück dauert diese unvermeidbare Tatsache des Lebens nie besonders lange. Wenn wir miteinander in Beziehung gehen, dann entsteht schnell eine erste Form der Bekanntheit.

Die Idealisierung der Arbeitswelt in der Bekanntheit

Inhaltsbild - Kletterpartner

Eine weitere unvermeidbare Tatsache des Lebens ist der Zustand der Bekanntheit. Bekanntheit beschreibt die Idealform von Zusammenarbeit. Zumal die Form, die wir als effektivste kennen- und schätzen gelernt haben. In der Bekanntheit haben wir erste Beziehungen zu unseren Mitmenschen in der Gruppe, der vorhin unbekannten Menge aufgebaut. Ganz bewusst klammern wir für den Moment das Spektrum der Gruppendynamik ein wenig aus und fokussieren deshalb nur auf die unvermeidbaren Tatsachen des Lebens. Wichtig ist, dass wir uns in der Bekanntheit in einem Raum befinden, der den Übergang zwischen dem ökonomischen und sozialen Tausch definiert. Im ökonomischen Tausch sind die gehandelten Waren direkt miteinander verbunden und mit einem klaren Wert verknüpft. Bei der Bekanntheit beginnt es darum zu gehen, dass ich mein Gegenüber sozial einschätze: Er spendiert mir einen Kaffee und ich rühme ihn dafür bei der nächsten Sitzung. Wir schätzen also gegenseitig unsere Bedürfnisse ein - und dies ist dann "sozialer Tausch".

Auch in der Bekanntheit gibt es zwei Handlungsmöglichkeiten, die uns bei unseren Handlungen und unserem Verhalten in Beziehungen zur Verfügung stehen: Zutrauen und Zweifel. In unseren Beziehungen geht es folglich nicht darum, ob du mir, oder ich dir vollumfänglich vertraue, sondern darum, ob wir uns gegenseitig etwas bestimmtes zutrauen oder berechtigterweise zweifeln, dass wir die Arbeit vielleicht nicht ganz richtig tun.

Im einleitenden Beispiel der Geiselverhandlung hat die geschilderte Person die Erkenntnis gewonnen, dass sie wenig Persönliches über die anderen Personen in der Eingreifgruppe wusste, sich aber absolut sicher war, dass die ihren Job genauso verantwortungsvoll und bewusst tun, wie die Person selbst. Der Person wurde klar, dass selbst dann, wenn es um Leben und Tod geht ein sicheres Zutrauen in die Kompetenzen des anderen eine gute Wahl ist.
Folglich ist es auch legitim, Zweifel zu äussern, wenn man unsicher ist, ob die Personen in der Gruppe ihren Job richtig machen. Im soziometrischen Modell von Schindler sind wir in der prä-gruppalen Phase, in der die Gruppe versucht, die der Gruppe eigenen dynamischen Rangstrukturen zu erarbeiten.

Die Emotionen in der Vertrautheit

Inhaltsbild - Paar wandert in Berglandschaft

Die dritte unvermeidbare Tatsache des Lebens ist die Vertrautheit. Vertrautheit ist das, was wir aus richtig guten privaten Beziehungen kennen. Es ist nicht so, dass dies in der Arbeitswelt nie existieren kann oder gar nicht existieren darf. Klar kann es solche Beziehungen in der Arbeitswelt geben. Aber: solche Beziehungen folgen keinem ökonomischen Modell. Es ist nicht mehr der offensichtliche Tausch von Ware gegen Wert, wie das im ökonomischen Tausch der Fall ist. In der Vertrautheit sind unsere Beziehungen geprägt vom sozialen Tausch. Einer anderen Person zu vertrauen, heisst eben nicht mehr nur kalkulatorisch auf die Beziehung zu schauen, sondern es geht um die moralische Qualität der Glaubwürdigkeit. Ich kann mich dann einer anderen Person hingeben, wenn ich mich auf sie verlassen kann - und verlassen werde ich mich dann auf sie, wenn ich das sichere Gefühl habe, dass sie bei dem bleiben wird, was sie über sich dargestellt hat - im Sinne von “Verlässlichkeit”. In Vorleistung zu gehen ist folglich nicht zwingend mit einer materiellen Erwartung verbunden. Vielmehr ist es soziales Kapital, das bewusst oder unbewusst erwartet wird. Wir gehen in Vorleistung und erwarten eine Rückleistung im ähnlichen Umfang von der Person, die unsere Vorleistung erhalten hat. Da die Ökonomie dieses Tausches nicht verbindlich ist, verstärken wir unseren Fokus auf die beiden Kräfte die uns in der Vertrautheit prägen.

Die beiden gegensätzlichen Entscheidungsmöglichkeiten sind Vertrauen und Misstrauen.

“Vertrauen ist wie ein Stück Papier. Wenn es einmal zerknüllt ist, wird es nie wieder perfekt sein.”

heisst es in einem Sprichwort. Ist einmal die enge und sichere Vertrautheit verloren, ist es sehr schwierig, wieder in eine gute Zusammenarbeit zu kommen. Viele Beziehungen in der Arbeitswelt scheitern an dem unvermeidbaren Dilemma, dass wir in der Arbeitswelt keine eindimensionalen Beziehungen pflegen. Wir sind in der Arbeitswelt mehrdimensionalen Beziehungen unterworfen. Ein reines 1:1 ist eher selten. Vermeintliches Vertrauen kann in solch mehrdimensionalen Beziehungen schnell enttäuscht oder gar zerstört werden. Es entsteht ein ungesundes, nagendes und giftiges Misstrauen, dass Beziehungen zerstört und uns die Zusammenarbeit verunmöglicht.

Der Einfluss auf unsere Zusammenarbeit

Inhaltsbild - Vier Hände berühren sich

Die Arbeitsfähigkeit von Gruppen kann man über drei Dimensionen definieren. Das gemeinsame Ziel, ein gemeinsames Verständnis über die jeweiligen Fähigkeiten und insbesondere ein genügend hohes Mass an Bekanntheit. Gruppen die effektiv zusammenarbeiten wollen brauchen einen Ausdifferenzierungsprozess, in dem Beziehungen soweit aufgebaut werden können, damit Bekanntheit entsteht. Wir müssen in den Gruppen geklärt haben, ob wir einander zutrauen, die gesetzten Ziele gemeinsam zu erreichen. Gleichzeitig müssen wir uns sicher sein, dass wir berechtige Zweifel einbringen dürfen, ohne deshalb gleich Rang, Status oder gar Beziehung gefährdet sehen zu müssen.

Erfolgreiche Gruppen haben sich gelöst von dem Gefühl des “wir müssen uns vertrauen”. Darum geht es nicht. Es geht lediglich darum, ob wir uns gegenseitig zutrauen oder zweifeln.

Dieser Ausdifferenzierungsprozess wird keiner Gruppe geschenkt, kann nicht angeordnet werden sondern braucht Raum und Zeit. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der nachhaltigen Begleitung von Gruppen in Veränderungen ist folglich, diesen Raum zu erzeugen, damit ein genügend hohes Mass an Bekanntheit erreicht wird. Damit wir uns gegenseitig zutrauen können, das gemeinsame Ziel zu erreichen.

Wir danken Prof. Dr. Olaf Geramanis für seine freundliche Unterstützung.

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