dot.tipp - formale Argumente erkennen und richtig damit umgehen
Wer kennt es nicht? Ein durchdachter Veränderungsvorschlag liegt auf dem Tisch, doch statt Zustimmung gibt es ein scheinbar rationales Gegenargument: „Das ist noch nicht detailliert genug.“ Klingt plausibel, ist aber oft eine subtile Blockadetaktik. Doch wie erkennt man den Unterschied zwischen echtem Klärungsbedarf und einem Widerstandsmechanismus?
Die Herausforderung mit formalen Argumenten
In Veränderungsprozessen begegnen uns immer wieder formale Gegenargumente. Aussagen wie „Wir brauchen mehr Details“, „Es fehlen noch Abstimmungen“ oder „Das ist noch nicht ausgereift“ scheinen auf den ersten Blick berechtigt. Doch oft sind sie keine echten Einwände, sondern Ausdruck von Unsicherheit, Widerstand oder sogar bewusster Verhinderungsstrategie.
In einem kürzlich durchgeführten Workshop haben wir mit einer Geschäftsleitung eine tiefgreifende Veränderung vorbereitet. Auf Basis des Modells der Team-Topologien entwickelten wir ein neues Organisationsdesign, testeten es mit realen Use Cases und überarbeiteten es iterativ. Unser Vorgehen war bewusst so gestaltet, dass die weitere Detaillierung nicht in einer kleinen Arbeitsgruppe, sondern mit den betroffenen Teams erfolgen sollte. Dennoch wurde der Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dass er „zu wenig detailliert“ sei. Ein klassischer Fall eines formalen Arguments als Blockade.
Warum formale Argumente als Widerstand dienen können
Widerstand gegen Veränderungen
(Visualisierung: dot consulting AG, Theorie: Kurt Lewin)
Kurt Lewin entwickelte das Drei-Phasen-Modell „Unfreeze – Change – Refreeze“, das beschreibt, wie Veränderungen in Organisationen implementiert werden. Die Phase des Unfreezing löst bestehende Strukturen auf und macht Akteure bereit für Veränderungen. In der Change-Phase erfolgt die eigentliche Anpassung. Schließlich sorgt das Refreezing für die Verstetigung der neuen Strukturen. Veränderungen scheitern oft daran, dass Organisationen sich nicht genügend Zeit für das Unfreezing nehmen oder durch Widerstand in der Change-Phase blockiert werden. Mehr dazu bei Wikipedia.
(Visualisierung: dot consulting AG, Theorie: Edgar Schein)
Edgar Schein ergänzte Lewins Modell mit der Theorie, dass Veränderungswiderstand nicht nur auf äußeren Faktoren wie Artefakten resp. dem sichtbaren Verhalten, sondern auch auf tief verankerten kulturellen Werten und psychologischen Mechanismen wie den oft unbewussten Grundannahmen basiert. Unsicherheiten führen oft dazu, dass sich Menschen an formale Argumente klammern, um den Status quo zu erhalten. Mehr zu Edgar Schein und Organisationskultur bei Wikipedia.
Mikropolitik und Machtverhältnisse
(Visualisierung dot consulting AG, Theorie Michel Crozier & Erhard Friedberg)
Michel Crozier und Erhard Friedberg analysierten in ihrem Werk zur Mikropolitik, dass Organisationen nicht nur nach offiziellen Hierarchien funktionieren, sondern dass Machtverhältnisse oft durch informelle Netzwerke und individuelle Interessen geprägt werden. Entscheidungen werden nicht immer rational getroffen, sondern durch strategische Verzögerungen oder Blockaden beeinflusst. Wenn ein Vorschlag als Bedrohung für etablierte Einflussstrukturen wahrgenommen wird, können formale Argumente gezielt eingesetzt werden, um den Prozess auszubremsen. Mehr zur Mikropolitik bei Wikipedia.
Ein weiteres häufiges Argument ist „Ich wurde nicht in die Diskussion einbezogen“. Dies lässt sich oft auf mikropolitische Dynamiken zurückführen. Stakeholder fühlen sich möglicherweise übergangen und nutzen dieses Argument, um die eigene Position zu stärken oder mehr Einfluss auf den Prozess zu nehmen. Frühzeitige Einbindung wichtiger Akteure kann helfen, diese Blockade zu vermeiden.
Sensemaking & Legitimität
(Karl Weick, Meyer & Rowan)
Karl Weick beschreibt mit seiner Sensemaking-Theorie, dass Organisationen neue Informationen erst verstehen („Sinn machen“) müssen, bevor sie darauf reagieren können. Veränderungsvorschläge, die von den etablierten Denkstrukturen abweichen, lösen Unsicherheit aus. Diese Unsicherheit wird oft durch das Argument „nicht detailliert genug“ kanalisiert, weil das vorhandene Denkmodell noch nicht ausreichend angepasst wurde. Mehr zu Sensemaking bei Wikipedia.
Ein weiteres häufiges Argument ist „Das Konzept ist zu abstrakt, wir brauchen konkrete Maßnahmen“. Dieses Bedürfnis nach greifbaren Handlungsanweisungen ist ein klassisches Beispiel für Sensemaking. Veränderungsprozesse profitieren von einer klaren Erzählung, die den Weg von der abstrakten Idee zur konkreten Umsetzung aufzeigt.
Meyer & Rowan ergänzten diesen Gedanken mit ihrer Theorie der institutionellen Legitimität: Organisationen orientieren sich nicht nur an Effizienz, sondern auch an gesellschaftlich anerkannten Normen. Vorschläge, die zu stark von bisherigen Mustern abweichen, werden oft nicht aus sachlichen, sondern aus legitimatorischen Gründen abgelehnt. Mehr zur institutionellen Theorie bei Wikipedia.
Ein weiteres Argument ist, dass „äußere Faktoren sich geändert haben und erst analysiert werden müssen“. Dies kann eine berechtigte Anforderung sein, aber oft wird es genutzt, um eine Entscheidung zu verzögern, ohne die tatsächliche Dringlichkeit der Analyse zu hinterfragen. Hier ist es wichtig, zu prüfen, ob diese Analyse tatsächlich notwendig ist oder ob sie nur als Vorwand dient.
Kognitive Dissonanz
(Leon Festinger)
Leon Festinger prägte das Konzept der kognitiven Dissonanz, das beschreibt, wie Menschen Unbehagen empfinden, wenn ihre bisherigen Überzeugungen durch neue Informationen herausgefordert werden. Um dieses Unbehagen zu reduzieren, werden oft rational klingende Gegenargumente konstruiert. In Organisationen führt das dazu, dass Veränderungsvorschläge abgelehnt oder verzögert werden, weil sie nicht mit dem bisherigen Selbstverständnis kompatibel sind. Mehr zu kognitiver Dissonanz bei Wikipedia.
Wie mit solchen Blockaden umgehen?
- Das Gegenargument als Signal verstehen
- Anstatt es nur als Ablehnung zu sehen, hinterfragen: „Was genau fehlt Ihnen an Details?“ Oft zeigt sich dann, dass es nicht um echte Inhalte, sondern um Unsicherheiten geht.
- Mikropolitik aktiv einbeziehen
- Wer könnte sich übergangen fühlen? Wer hat welche Interessen? Je besser diese analysiert sind, desto gezielter können wichtige Stakeholder in den Prozess integriert werden.
- Entscheidungsoptionen anbieten
- Statt nur einen Vorschlag zur Abstimmung zu bringen, mehrere Szenarien aufzeigen: „Wir haben 80 % Klarheit – wie möchten Sie die restlichen 20 % ausgestalten?“
- Druck durch erste Umsetzungen erzeugen
- Pilotprojekte oder erste Maßnahmen einleiten, die eine vollständige Ablehnung erschweren. „Wir starten mit einer kleinen Umsetzung und passen iterativ an.“
- Storytelling nutzen
- Menschen brauchen greifbare Beispiele. Eine klare Erzählung, wie der Vorschlag langfristig wirkt, hilft, Blockaden zu reduzieren.
Zwischen echtem Klärungsbedarf und Widerstand unterscheiden
Nicht jedes formale Gegenargument ist ein bewusster Blockadeversuch. Manchmal fehlt tatsächlich noch eine Präzisierung. Doch wenn sich eine Organisation immer wieder hinter „fehlenden Details“ versteckt, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Wer es schafft, Widerstand zu erkennen und ihm mit klugen Methoden zu begegnen, kann Veränderungen deutlich effektiver umsetzen.
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