dot.coaching - Identitätskrisen in Transformationen: Warum es nicht nur um Methoden geht
Seit über zehn Jahren beschäftige ich mich mit der Evolution von Vorgehensmodellen. Ich habe Vorträge dazu gehalten, an Fachhochschulen referiert, Blogartikel geschrieben und Diskussionen auf LinkedIn verfolgt. Doch während das Thema früher oft als methodische Fragestellung behandelt wurde – also, welches Modell wann besser geeignet ist – schlägt es heute grössere Wellen. Warum?
Der Kern meiner Hypothese: Es geht nicht um Methoden wie Scrum oder Wasserfall. Nicht wirklich. Es geht um Identität.
Wenn Transformation zur Identitätskrise wird
Die Einführung agiler Methoden hat viele traditionelle Rollen infrage gestellt. Leider geschah dies oft nicht explizit, etwa durch eine klare Kommunikation, die erklärt, welche Rollen früher wertgeschätzt wurden und wie sie in den neuen Sprachkonstrukten der Agilität wiederzufinden sind. Vielmehr wurden neue Rollen postuliert, an denen sich die Mitarbeitenden orientieren mussten, ohne dass die bestehenden Strukturen und Rollen ausreichend berücksichtigt wurden. Beispielsweise habe ich selten bis nie gesehen, dass fundiert erklärt wurde, weshalb die Rolle der Projektleitung überhaupt in Frage gestellt wurde.
Die Erklärung dafür ist eigentlich einfach: Das bekannte Iron-Triangle von Lösungsumfang, Kosten und Ressourcen, das bei Gleichgewicht eine angemessene Qualität verspricht, lässt sich in einer sich schnell verändernden Welt (Stichwort V.U.C.A.) nicht von einer einzelnen Person allein in Balance halten. Agile Ansätze, die darauf abzielen, in kurzen Iterationen einen Mehrwert für Kunden zu schaffen, drehen dieses Dreieck um und fixieren Kosten sowie Ressourcen. Diese Logik ergibt sich aus der Fixierung der Iterationslänge und dem Einsatz stabiler Teams – das Prinzip "Arbeit zu den Teams bringen" anstelle von "für jede Arbeit neue Teams zusammenstellen". Dies führt zu einer klaren Fokussierung auf die Priorisierung des Lösungsumfangs in Form eines kontinuierlichen Backlog-Managements. Da die Ziele des Backlog-Managements (Lösungsumfang) und der Prozessgestaltung (Ressourcen und Iterationskonstanz) teilweise in Konflikt stehen, macht es Sinn, diese Aufgaben und Kompetenzen, die früher in der Rolle der Projektleitung vereint waren, auf zwei gleichberechtigte Rollen (Product Owner und Scrum Master) zu verteilen. Dadurch wurde die traditionelle Rolle der Projektleitung grundlegend infrage gestellt.
Projektleiter:innen, die sich über Jahre hinweg weitergebildet und Expertise aufgebaut hatten, finden sich plötzlich in einer Welt wieder, in der Scrum Master oder Product Owner gefragt sind. Das klassische Verständnis von Planung, Steuerung und Verantwortung wird aufgebrochen – oft ohne einen klaren Übergang oder eine erkennbare Wertschätzung für das bestehende Wissen.
Ein weiteres Beispiel einer klassischen Rolle, die durch die Agilität in ihrem Selbstverständnis betroffen ist, ist das Applikationsmanagement. Hierbei muss allerdings klargestellt werden, dass nicht nur die Agilität diese Rolle infrage stellt, sondern auch moderne Applikationsdesigns (u.a. durch technische Excellence), die darauf abzielen, Funktionalitäten nicht mehr individualbasiert zu konzipieren und zu betreiben, sondern sie über Cloud-Services einer breiteren Stakeholdergruppe zur Verfügung zu stellen. Dies reduziert viele Redundanzen, bedeutet aber auch, dass die Rolle des Applikationsmanagements neu gedacht werden muss. Gleichzeitig entstehen natürliche Überschneidungen zwischen Product Ownern, Product Management und bisherigen Applikationsverantwortlichen. Auch in diesem Fall gibt es selten eine klare Begleitung der Rollenveränderung oder einen Ansatz, der die Betroffenen zu Beteiligten macht.
Viele Unternehmen unterschätzen, was das mit den betroffenen Personen macht. Denn es geht nicht nur um den Verlust eines beruflichen Selbstverständnisses, sondern oft auch darum, klassische Führungskompetenzen zu verlieren und sich in einer Rolle wiederzufinden, die nun plötzlich keine Befehlsgewalt mehr hat, sondern im Konsens mit dem Team agieren muss. Wenn ich meine Arbeit nicht mehr in gewohnter Weise und Selbstverständnis ausführen kann, wer bin ich dann noch in dieser Organisation?
Warum jetzt?
Obwohl das Thema seit Jahren bekannt ist, erzeugt es aktuell eine viel höhere Resonanz. Mein LinkedIn-Beitrag wurde weit über 20.000-mal angesehen, hat mehr als 150 Reaktionen erhalten und wurde vielfach geteilt. Während viel Zustimmung da war, wurde auch oft kritisiert, dass einige Modelle fehlen, dass sie nicht linear entstanden sind oder dass hybride Ansätze fehlen. Diese sachlich korrekten Einwände erstaunen insofern, als dass sie gerade jetzt solche Reaktionen auslösen. Die Vermutung liegt nahe, dass hier noch weitere Treiber eine Rolle spielen:
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Kosteneinsparungen, Programmkürzungen, wirtschaftliche Unsicherheiten. In einigen Ländern, insbesondere im öffentlichen Sektor, werden Programme reduziert oder gestrichen. Dies bedeutet nicht nur Jobverlust, sondern auch den Verlust gewohnter Strukturen.
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Agile Transformationen ohne klares Ziel. Viele Unternehmen "machen jetzt agil", jedoch ohne eine kohärente Strategie, was oft zu Orientierungslosigkeit führt.
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Fehlende Anerkennung für bestehendes Wissen. Die Umstellung auf agile Methoden bedeutet nicht, dass alles Vorherige wertlos ist – doch genau dieses Gefühl entsteht oft, wenn Veränderung mit Absolutheit kommuniziert wird und das bestehende Wissen nicht in den Prozess integriert wird.
Die Rolle der Digitalisierung
Vor 2020 war das Thema Digitalisierung eher den wirklich innovativen Unternehmen vorbehalten. Nur ganz wenige Organisationen haben sich dem Thema ernsthaft angenommen. Die "anderen" Organisationen wurden 2020 durch die radikal veränderten Marktbedingungen überrascht und teilweise sogar aus dem Markt gedrängt. Radikale Vernetzung, Cloud-Technologien, hohe Verfügbarkeit, ja selbst künstliche Intelligenz waren vor 2020 eher Zukunftsgeflüster. Themen die man strategisch am fernen Horizont gesehen hat, aber abwarten wollte um die eigenen Investitionen zu schützen. Heute ist sogar eine kleine Beratungsfirma wie unsere in der Lage ein Retrieval-Augmented Generation (RAG) System zu betreiben, um das eigenen Wissen zu konsolidieren. Selbst wir können unseren Blog heute mit einem Chat-Bot erweitern, der Antworten auf der Basis unserer Blogbeiträge erzeugt und so den Zugang zu unserem Wissen noch einfacher macht. Unsere Analyse Plattform tschegg.io wandelt sich dank künstlicher Intelligenz langsam zu einer Beratungsplattform. Digitalisierung ist da und kein echtes strategisches Ziel mehr. Vielmehr wahrgenommene Realität. Diese Realität verändert nun mit einer unglaublichen Geschwindigkeit viele weitere Rollen und weitet diesen Change sogar auf ganze Berufsbilder aus. Siehe dazu auch den Blog Beitrag von David (geschrieben im 2018!) zur Zukunft des Berufsbildes Sachbearbeitende.
Die Rolle der Führung
Führungskräfte stehen hier vor einer entscheidenden Herausforderung: Transformation erfordert nicht nur ein methodisches Konzept, sondern auch ein Bewusstsein für die Identitätskrisen, die sie auslösen kann.
Oft wird in Change-Prozessen viel über Marktumfeld, Visionen und Strategien gesprochen; es wird Wert auf effektives und effizientes Ressource-Management gelegt. Gleichzeitig werden die Betroffenen auf allen Stufen nur beschränkt und mit Fokus auf die die Umsetzung einbezogenen und bleiben somit bloss Betroffene. Der erste Schritt wäre doch anzuerkennen, was in der Organisation gerade passiert und welche wertvollen Ressourcen (Menschen, Wissen, Technologien, Werkzeuge) bereits vorhanden sind. Wenn ich als Führungskraft nicht realisiere, was sich verändert, nicht selbst spüre, was es mit mir macht, dann wird es schwer, die Ängste und Sorgen der Mitarbeitenden zu verstehen.
Zentrale Aufgabe ist und bleibt folglich, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Das funktionierte noch nie in einem Elfenbeinturm, sondern bedingt, dass ich mich als Führungskraft dem Diskurs mit meinen Mitarbeitenden stelle.
Fazit: Was jetzt gebraucht wird
Wenn Unternehmen sich mit dem Thema Digitalisierung und damit verbunden neuen Vorgehensmodellen und daraus abgeleitet neuen Zusammenarbeitsmodellen beschäftigen, sollten sie nicht nur auf Prozesse und Frameworks schauen, sondern auch auf die emotionalen und beruflichen Identitätsfragen, die damit einhergehen. Change Management bedeutet nicht nur Schulungen zu neuen Methoden, sondern auch echtes Zuhören, Wertschätzung für bestehendes Wissen und eine klare Perspektive für die Zukunft. Was nützt mir als Arbeitnehmende die schönste Vision meiner Organisation, wenn ich meinen Platz in dieser Vision nicht erkennen kann.
Denn am Ende ist die Frage nicht: "Scrum oder Wasserfall?". Die eigentliche Frage ist: "Wo ist mein Platz in dieser neuen Arbeitswelt?"
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