dot.coaching - Vom Wir zum Ich: Wie Organisationen sich in Unsicherheit verengen und was sie wieder öffnet

5 Minuten Lesezeit
30. November 2025
dot.coaching - Vom Wir zum Ich: Wie Organisationen sich in Unsicherheit verengen und was sie wieder öffnet
9:44

Vom Wir zum Ich – und wieder zurück? In den letzten Jahren hat sich etwas verändert. Man spürt es in Projekten, in Gesprächen, in Führungsteams. Da, wo früher über Vertrauen, Ownership und Selbstorganisation gesprochen wurde, hört man heute wieder häufiger Worte wie Kontrolle, Effizienz und Planerfüllung.

Es ist weniger ein Richtungswechsel als eine systemische Rückbewegung: Wenn Unsicherheit steigt, kippen Verhältnisse zurück auf Steuerung – und Verhalten und Haltung folgen.

Viele Organisationen, die einst agil werden wollten, drehen gerade wieder zurück. Nicht laut, nicht mit Ansage, aber spürbar. Statt Freiheit dominiert wieder Sicherheit. Statt Vertrauen dominiert Misstrauen - oft getarnt als "Governance".

Diese Entwicklung ist kein Zufall. Sie ist das Resultat mehrerer paralleler Bewegungen, die sich gegenseitig verstärken und gemeinsam einen Trend formen: den Weg vom Wir zum Ich.

Trend 1: Zurück zur Kontrolle

Agilität war lange Zeit das Schlagwort der Hoffnung. Selbstorganisierte Teams, Shared Ownership, dezentrale Verantwortung, das klang nach Zukunft. Doch mit der Unsicherheit der letzten Jahre ist das Vertrauen vieler Unternehmen in diese Konzepte geschrumpft. Ob das wirklich durchdacht ist, darf bezweifelt werden. Ob man sich bei solchen Entscheiden Gedanken darüber macht, welche Message dieser Wandel bei jedem einzelnen Menschen, gerade erst befähigt und ermutigt, auslöst, darf zumindest angezweifelt werden.

Wo früher Retrospektiven und Experimente standen, stehen heute wieder Planungsmeetings, übergeordnete Governance, Reporting und ausgeklügelte KPI-Dashboards.

Wo Teams einst Verantwortung trugen, wird heute wieder gesteuert. Teilweise hat sich das die Agile Bewegung auch selbst eingebrockt. Sind doch nicht zuletzt auch Frameworks wie SAFe mit ihrem Skalierungsansatz wohl doch ein bisschen zu weit gegangen. Skalierung zentralisiert Entscheide, fördert Koordination von Entscheiden und führt zwangsläufig zurück zu Hierarchie.

Der Gedanke, dass Menschen am besten arbeiten, wenn sie Gestaltungsspielraum haben, wird überlagert von der organisationalen Angst, Kontrolle zu verlieren. In unsicheren Zeiten wirken alte Muster plötzlich wieder verlässlich - zumindest scheinbar.

Kontrolle wird wieder als Stabilität verkauft.

Nur ist sie in Wirklichkeit oft eine Illusion von Sicherheit, teuer erkauft durch den Verlust von Motivation und Eigenverantwortung. Und das wissen wir. Eigentlich. Und trotzdem ist diese Umkehrbewegung spürbar.

Trend 2: Sparen an Entwicklung

Der wirtschaftliche Druck wächst. Zölle, geopolitische Spannungen, Unsicherheiten an den Finanzmärkten, all das führt dazu, dass viele Organisationen ihre Investitionen zurückfahren. Besonders jene in die Entwicklung von Menschen.

Trainings werden verschoben, Budgets gestrichen, Entwicklungsprogramme zentralisiert - oft mit der Illusion, Effizienz zu steigern.
Der Preis: Menschen werden effizienter, aber nicht wirksamer. Organisationen arbeiten mehr, aber lernen weniger.

Statt Befähigung heisst es wieder: Auslastung, oder wie wir in unserem anderen Beitrag erläutert haben, Ressource-Efficiency.

Die Folge:

  • Mitarbeitende werden effizienter, aber nicht wirksamer.

  • Die Organisation arbeitet mehr, aber lernt weniger.

  • Langfristige Resilienz wird zugunsten kurzfristiger Kostenreduktion geopfert.

  • Output wird höher gewichtet als Outcome

Wer in schwierigen Zeiten nicht in die Menschen investiert, spart an der einzigen Stelle, an der sich Investitionen wirklich lohnen würden.

Trend 3: Fragmentierung im Beratungsmarkt

Mal kurz aus dem Nähkästchen geplaudert. Auch in der Beratungsbranche zeigt sich ein ähnliches Muster.

Zunehmend fragen kleinere Beratungsfirmen und Einzelpersonen nach Kooperationen, meist, weil sie keine Aufträge haben. Gleichzeitig machen sich viele Menschen selbstständig, oft ohne klare Positionierung oder Auftragslage.

Das Ergebnis ist eine paradoxe Dynamik. Während Unternehmen weniger externe Unterstützung einkaufen, wächst die Zahl derer, die Beratung anbieten.

Es ist ein Markt der Vereinzelten. Teilweise möchte man fast sagen: der Verzweifelten.

Ein Markt, in dem aus der Idee des gemeinsamen Lernens immer häufiger das gemeinsame Überleben wird.

Und auch hier gilt: vom Wir zum Ich.

Trend 4: Die Gesellschaft der Spiegel

Parallel dazu verändert sich unsere Kultur. Das Smartphone ist zum ständigen Begleiter geworden, und mit ihm ein unerschöpflicher Zugang zu Wissen, Aufmerksamkeit und Vergleich.

Wir tragen die Welt in der Hosentasche. Und mit ihr die Illusion, sie im Griff zu haben.

Das führt zu einer leisen, aber tiefgreifenden Verschiebung:

  • Menschen sehen sich zunehmend als Mittelpunkt ihrer eigenen kleinen Welt.

  • Das "Ich" wird zur Referenz, nicht mehr das "Wir".

  • Feedback wird zur Zumutung, weil es die Selbstsicht irritiert.

Gegensätzliche Meinungen verschwinden, weil der Algorithmus das verstärkt, was ohnehin schon da ist.

So entsteht ein Ökosystem, in dem Reibung abnimmt und mit ihr das Lernen. Der Austausch, die Reibung - das, was uns eigentlich als Menschen ausmacht.

Trend 5: KI als Verstärker

Mit der breiten Verfügbarkeit generativer KI hat diese Entwicklung eine neue Dimension erreicht.

Tools wie ChatGPT simulieren Beziehung. Sie hören zu, antworten freundlich, loben, bestätigen. Und das ständig. Da mag mein Gedanke noch so "kreativ" sein. "Mein ChatGPT" wird mich auch dann loben, wenn ich sinnfreie Texte schreibe. Ich kann mir sicher sein, dort ist "ein Freund" / "eine Freundin", die mich versteht und mir gut zuspricht.

Das erzeugt ein Gefühl von Zugehörigkeit, Verstanden werden, Anerkannt werden ohne Gegenüber.

Ein perfektes Abbild unserer Bedürfnisse: jederzeit verfügbar, unendlich geduldig, nie wertend.

Doch genau darin liegt die Gefahr. KI erzeugt diese Muster nicht, sie verstärkt, was ohnehin da ist. Wer sich zu oft in dieser Art von Interaktion bewegt, gewöhnt sich an Zustimmung ohne Reibung.

An Feedback, das immer wohlwollend ist.

An ein Gegenüber, das keine Haltung braucht.

Im Vergleich dazu wirkt menschliches Feedback plötzlich unfreundlich, unpräzise oder gar übergriffig.

Das verändert, wie Menschen auf Kritik reagieren und wie sie zusammenarbeiten. Logisch möchte ich da mein Konzept lieber mit "meinem ChatGPT" erarbeiten, weil da kommt es gut, wird es gut und werde ich gelobt.

Trend 6: Das neue Team - Ich & mein Algorithmus

Was wir erleben, ist die Geburt einer neuen Teamkonstellation:

Nicht mehr Mensch mit Mensch, sondern Mensch mit Maschine.

Viele Menschen optimieren heute sich selbst; Arbeit, Produktivität, Sichtbarkeit. Unterstützt von Tools, die genau dieses Verhalten begünstigen.
Das Ergebnis sind lokal optimierte Einheiten, aber kein gemeinsames Systemverständnis.

Nur: Zusammenarbeit wird dadurch oft zur Nebensache. Es entsteht ein Nebeneinander statt eines Miteinanders.

Ein System aus lokal optimierten Einheiten, hoch spezialisiert, aber kaum noch verbunden.

Das Resultat? Organisationen werden dadurch komplexer, nicht effizienter. Die für Teams so wichtige Kooperation wird durch Koordination der Resultate ersetzt .

Die für gemeinsame Arbeit und konstruktives Feedback so wichtige Verbindung wird durch Verständnis ersetzt. Es geht ja nicht mehr darum, gemeinsam etwas zu erzeugen, sondern nur noch darum zu verstehen, was die anderen machen. Möglichst reibungsfrei.

Die Summe dieser Einzelleistungen ergibt kein Team, sondern eine lose Kopplung gut gemeinter Einzeloptimierungen, die alle das Richtige tun, aber selten das Gleiche meinen.

Was das für Organisationen bedeutet

Die Folgen sind längst sichtbar:

  • Lokale Optimierung: Jede Einheit arbeitet an ihrer Perfektion, während das Ganze an Kohärenz verliert.

  • Zunehmende Komplexität: Schnittstellen und Abhängigkeiten wachsen – während das gemeinsame Verständnis schrumpft.

  • Verlust von Resonanz: Gespräche werden sachlicher, aber nicht tiefer. Kommunikation ersetzt Beziehung.

Man kann das als Effizienzgewinn verkaufen. Oder als das, was es ist: ein schleichender Verlust von kollektiver Intelligenz.

All das zusammengenommen zeigt ein klares Muster: Je stärker das Ich optimiert wird, desto mehr verliert das Wir an Bedeutung.

Und jetzt?

Es geht überhaupt nicht darum, Agilität zu retten oder KI zu verteufeln.

Sondern darum, sich bewusst zu machen, was auf dem Spiel steht.

Wir müssen nicht zurück in alte Muster.

Aber wir sollten verstehen, dass Vertrauen, Resonanz und Beziehung keine weichen Faktoren sind, sondern Voraussetzungen für jede Form von Zusammenarbeit.

Drei Gedanken verteilt auf unsere drei Wirkungsebenen Verhältnisse, Verhalten und Haltung, die helfen könnten:

  • Verlernen der Kontrolle: Führung bedeutet nicht, alles zu wissen, sondern Räume (Verhältnisse) zu schaffen, in denen andere lernen können.

  • Beziehungsarbeit ernst nehmen: Feedback ist kein Tool zur Leistungssteigerung, sondern ein Akt der Verbundenheit (Verhalten).

  • KI entromantisieren: Sie kann vieles, aber keine Beziehung. Sie ersetzt keine Reibung, kein Vertrauen, kein gemeinsames Lernen.
    Hier braucht es eine Haltung, die die Maschine integriert, ohne die menschliche Resonanz zu verlieren.

Schlussgedanke

Wir haben das Team professionalisiert, digitalisiert, virtualisiert und dabei fast vergessen, dass es ein soziales System ist.

Vielleicht ist es an der Zeit, wieder gemeinsam Mensch zu sein.

Nicht als Ich im Team, sondern als Wir in Beziehung.

Bevor wir alle nur noch zu zweit sind:

Ich und mein Chatbot - und das wir dazwischen verloren geht.

 

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