dot.kunden: Wenn Tools Kultur verändern - und warum das Angst machen kann

5 Minuten Lesezeit
06. November 2025
dot.kunden: Wenn Tools Kultur verändern - und warum das Angst machen kann
9:09

Wenn Tools - für uns Methoden, Techniken oder einfach ein Instrument - in Organisationen Einzug halten, verändern sie mehr als Prozesse. Sie verändern Verhältnisse: Systeme, Strukturen und Rahmenbedingungen, in denen Zusammenarbeit stattfindet. Durch Transparenz und gemeinsame Entscheidungen entstehen neue Räume des Miteinanders. Gemeinsam verhandelt, Macht neu verteilt, Klarheit geschaffen. Dieser Wandel kann Angst machen, weil er unsere (Un-)Sicherheiten "triggert". Doch genau darin liegt der Wert. Tools werden zu Impulsen für echte Kulturveränderung durch bewusst gestaltete Rahmenbedingungen, die Vertrauen und Verantwortung fördern.

Montagmorgen in einem grossen Raum

Ich erinnere mich noch gut an diesen Moment. Strategieverantwortliche, Zielverantwortliche, Projektverantwortliche, Bereichskoordinator:innen und wir aus der Transformationsabteilung als Prozessgestalter, welche den Raum halten wollen, sollen, werden. An der Wand hängen alle Projekten auf standardisierten Templates. Prioritäten. WSJF Werte – dazu komme ich noch. Ownership und Strategiebezug.

"Ein Tool kann auch eine Leiter sein. Ein Werkzeug dass dir eine andere Perspektive gibt."

Facilitator Tipp: Klebehaftpunkte (falls keine magnetische Wand) einfach abnehmbar UND eine Leiter. Denn Projekttemplates von oben nach unten zu rangieren, die einerseits noch gut lesbar und nicht zu gross sind, brauchen Riesen. Das bin zumindest nicht ich, mit 1.80 Körpergrösse.

Startpunkt in solche Session ist - wenn wir als dot consulting ag Verhältnisse schaffen - stets gleich:

  • Ziele sind transparent.
  • Agenda ist klar.
  • Spielregeln sind kommuniziert – hängt alles AUCH an der Wand. Transparenz halt und nicht auf einer Powerpoint Seite 37 oder so im Hintergrund.
  • Themenspeicher für mögliche Themen die zwar richtig sind, aber heute nicht wichtig.
  • Rollenverständnis - "Was ist meine/unsere Rolle als Facilitator, was wird in diesem Moment vom System erwartet, sodass die Ziele erreicht werden können?"

Raus aus dem Nebeneinander. Nacheinander. Übereinander. Zum Miteinander.

Viele Organisationen funktionieren lange nach dem Prinzip des Nebeneinanders. 

Jedes Team arbeitet in seiner Welt, Prioritäten sind diffus, Wissen ist ungleich verteilt. Vielleicht erreichen die Informationen auch irgendwann die weiteren Abteilungen. Nacheinander. Manchmal leider sogar auch im Übereinander. "Die anderen halt, was machen DIE da wieder", als stetiges Mantra.

Wir stellen einen Common Ground of Knowledge sicher, sodass sich ALLE an der kommenden Diskussion beteiligen können. Wir starten in unserer Session demnach meist mit einem dynamischen Marktplatz. Dieser lebt vom Dialog. Nicht vom Lautesten, sondern vom aktiven Zuhören, Nachfragen, Einordnen. Hier darf man sich offen melden: "Ich verstehe das noch nicht", "Was sind die Gedanken dahinter?", "Was könnte das für uns bedeuten?" So entsteht nicht nur Transparenz, sondern Verbundenheit. Und das System beginnt zudem, sich selbst zu verstehen.

Nach diesem Einstieg geht es zur "Sache". Kein "oben" priorisiert und "unten" führt aus, sondern ein gemeinsames Verständnis darüber, was wirklich wichtig ist – und warum.

dot_blog_Angst_Messung

Verhältnisse prägen das Verhalten

Wenn wir Key Stakeholder schon mal in der Flut an Meetings – eine grosse Herausforderung aktuell – in einen Raum vereinen können, wollen wir rasch die richtigen und wichtigen Diskussionen forcieren. Wert erzeugen. So starten wir jeweils mit einer ersten MVP-Priorisierung – einer Art "Minimal Viable Priorization" als sogenannte Motzvorlage. Ein erster, pragmatischer Wurf, um Orientierung im System zu schaffen.

"A fool with a tool is still a fool. Dieses stetig weiterentwickeln ist unabdingbar."

Facilitator Tipp: Mit jeder Planungsiteration wuchs auch die Projektlandschaft – und mit ihr die Komplexität. Das liegt in der Natur der Sache: Je mehr Projekte, desto mehr Abhängigkeiten, desto schwieriger der Fokus. Aktuell wird nun bereits im Vorfeld der gemeinsamen Meetings, eine Priorisierung durch eine nominierte Kleingruppe – bestehend aus Vertretern der obigen Stakeholder – hergestellt, um im Plenum mehr Zeit für Transparenz zu schaffen. Und diese braucht es. Denn wenn alles auf dem Tisch liegt, wird sichtbar, wo Entscheidungen bisher auch im Verborgenen getroffen wurden.

Für diesen ersten Wurf nutzen wir auf diesem Flight Level 3 (nach Klaus Leopold, Rethinking Agile) unter anderem den WSJF (Weighted Shortest Job First) aus dem SAFe Framework – eine Bewertungsmethode, die Nutzen, Dringlichkeit und Aufwand in Relation setzt. Doch wichtiger als die Formel ist die gemeinsame Bewertungslogik. Hier braucht es unbedingt auch zusätzlich ein Raster, dass einzelne Werte KONKRET beschreibt.

Die Formel lautet:

WSJF = (Geschäftswert+ Zeitkritikalität + Risikominimierung und/oder Chancengenerierung) ÷ Aufwand

Die vier Dimensionen werden jeweils mit Fibonacci-Zahlen versehen. Die ersten drei Dimensionen bestimmen die Cost of Delay, also die "Kosten der Verzögerung oder des Wartens". Sie setzen sich zusammen aus:

User und Business Value (Geschäftswert): Wie profitieren die Kunden bzw. Nutzer (User Value) sowie das Unternehmen (Business Value) von der Umsetzung?

Time Critically (zeitliche Kritikalität): Gibt es Termine, die eingehalten werden müssen? Warten Kunden dringend auf das Projekt? Wäre der User und Business Value derselbe, wenn die Umsetzung erst später erfolgt?

Risk Reduction und/oder Opportunity Enablement (Risikominimierung und/oder Chancengenerierung): Würde durch die Umsetzung ein bestehendes Risiko verringert? Oder würden neue Chancen entstehen, etwa durch zusätzlich gewonnenes technisches Know-how?

Die vierte Dimension, die in den WSJF einfliesst, ist schliesslich die Job Duration, also der voraussichtliche Aufwand für die bzw. die Dauer der Umsetzung. Auch hier kommen Fibonacci-Zahlen zum Einsatz – und wiederum nicht, um konkrete Zeitaufwände zu beziffern, sondern um die Verhältnisse zueinander abzubilden.

Ein "Wert" 3 bei Risikoreduktion bedeutet in diesem Fall:

Das Projekt reduziert Risiken nur in geringem bis moderatem Mass oder erschliesst keine entscheidend neue Chance, sondern ist eher ein operatives, laufendes Verbesserungsthema. Die aktuelle Plattform läuft stabil, nur Supportkosten steigen leicht. Es besteht kein akutes Compliance- oder Sicherheitsrisiko. Das Projekt ist sinnvoll – aber kein "Dealbreaker“. In der WSJF-Sprache: Eine "3" steht für niedrigen, aber vorhandenen Beitrag zur Risikoreduktion. Sie signalisiert: Wichtig, aber nicht kritisch.

Denn nur wenn alle mit derselben Brille schauen, kann ein gemeinsames Systemverständnis entstehen. Das schafft Objektivität – und verhindert, dass Diskussionen zu Machtfragen werden.

Egal ob WSJF, Nutzen-Aufwand-Matrix oder qualitative Bewertung. Entscheidend ist, dass alle dieselbe Sprache sprechen. Die Rahmenbedingungen des Entscheidens ändern sich folglich – und damit das Verhalten im System.

dot_blog_Angst_Fear

Der Paarvergleich – Verhalten sichtbar machen

"Wenn ich mein Projekt nach oben ziehe, bedeutet das, dass deins nach unten rutscht."

Und plötzlich war sie spürbar – diese Spannung im Raum. Denn genau in diesem Moment wurde klar: Wir verhandeln nicht nur Zahlen, nicht eine Projektliste. Wir verhandeln Macht.

Machtverhältnisse werden neu definiert. Transparenz wird zur Norm. Diesen Raum gilt es zu halten, indem eine Balance zwischen Kreativität und Struktur gefunden wird. Das heisst Raum für Fragen und Diskussionen unbedingt zulassen. Diesen aber nach einer gewissen Zeit auch wieder zu schliessen und zu einer Entscheidung zu führen. Vielleicht manchmal "nur" einen KonsenT ("niemand ist dagegen") und keinen KonsenS ("alle sind dafür") herbeizuführen.

Konsequenz: Einfluss wird geteilt. Das bedeutet auch, niemand kann sich mehr hinter Strukturen verstecken. Nicht mehr sagen: "Das wurde oben entschieden." oder eben "Die anderen halt". Miteinander STATT Übereinander.

Denn plötzlich ist klar: Wir alle sind Teil dieses Systems – und wir haben es verändert. Diese Momente können innert Stunden entstehen. Das beschriebene Meeting dauert zwischenzeitlich weniger als 3 Stunden. Von der Fremdheit in die Bekanntheit zur Vertrautheit. 

Diese Verantwortung kann Angst machen. Wenn aus diesen neuen Tools ein klares Commitment entsteht und dieses Commitment in die Organisation getragen wird, dann verändert sich nicht nur eine Entscheidung, sondern das System selbst.

"Use it or lose it" 

Lernen ist bekanntlich Wiederholung. Einmal etwas erreicht, muss dieser Aktionsimpuls immer wieder neu erzeugt werden – in jeder Priorisierungsrunde, jedem Workshop, jedem Meeting, jedem Dialog.

Das ist der Moment, in dem Tools aufhören, blosse Werkzeuge zu sein und anfangen, Rahmenbedingungen neu zu gestalten. Ja, das macht manchmal Angst. Aber vielleicht ist genau diese Angst das Zeichen, dass sich das System wirklich bewegt.

Und welche Tools machen bei euch Angst? Schreibe es in die Kommentare!

Keine Kommentare

Teile deine Meinung

Werde per Email über neue Blogs informiert