dot.research - Warum Selbstorganisation Teams stark macht (Teil I)

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16. September 2020

Ohne Oben - Die Kunst der Selbstorganisation 

Vor einiger Zeit war das der Titel der Zeitschrift für Organisationsentwicklung – er hat mich regelrecht angesprungen und ich fand, er bringt wunderbar auf den Punkt, was momentan und nun schon seit einer Weile in den Organisationswelten passiert:

Ohne oben – die klassische, altbekannte Pyramide, welche die Organisations- und Führungsstrukturen der allermeisten Unternehmen prägt, ist unter Beschuss. Nicht dass das komplett neu wäre. Was aber tatsächlich neu ist, ist die Vehemenz und Dringlichkeit, mit der die Anforderungen der digitalen Transformation Organisationen dazu zwingen, die Art und Weise der Zusammenarbeit anders und neu zu denken. So stecken wir heute inmitten der grössten Umwälzung der Arbeitswelt seit der Industriellen Revolution.

Es wurde auch Zeit! Denn wenn man sich vor Augen führt, dass wir trotz völlig anderer Umweltdynamiken, als es noch vor 100 Jahren der Fall war, immer noch mit einer Organisationsstruktur hantieren, die auf Stabilität und Effizienz ausgerichtet ist, ist das doch paradox.

Also: Herzlich Willkommen Revolution! Ich kann es kaum erwarten, bis neue flexiblere Organisationsmodelle wie Flugzeuge, Elektrizität oder das Internet zum Status Quo gehören. Verbannen wir die starre Hierarchie wie Dampfmaschinen oder Faxgeräte in unsere Geschichtsbücher! 

Aber Moment. Bevor wir in blinden Aktionismus verfallen, blicken wir  doch zunächst auf das WARUM. Starting with Why. Welche Entwicklungen sind für diesen Wandel zentral? Kurz und knapp, zur Vergegenwärtigung: 

Erstens: Anforderungen der digitalen Transformation. 

  • Starr hierarchische Unternehmen sind zu langsam und zu schwerfällig. Ich denke, viele von euch haben ähnliche Erfahrungen in der Pyramide: Kompliziert, geprägt von Machtspielchen, die das Wesentliche, nämlich Wert für die Kundinnen und Kunden zu generieren, aus den Augen verlieren.
  • Und logisch ist auch, dass bei unzähligen Hierarchiestufen und einer Command-and-Control-Mentalität Ideen und Informationen, die der Motor der Weiterentwicklung für das Unternehmen wären, im Keim erstickt werden. 
  • So wird es schwierig bis unmöglich, im Wettbewerb mit jungen, agilen Unternehmen, die sich viel schneller auf neue Bedingungen einstellen können und Geschäftsmodelle und ganze Firmenzweige in atemberaubender Geschwindigkeit entwickeln, zu bestehen.

Das heisst: 

  • Erforderlich sind konsequent vom Kunden her gedachte interne Prozesse und Strukturen. Und damit werden laterale Kooperationsformen unerlässlich, die mit der erforderlichen Geschwindigkeit und Innovationskraft auf sich ständig ändernde Anforderungen von aussen antwortfähig bleiben. Zusammenarbeit und starke Teams rücken demnach ins Zentrum der Organisationen der Zukunft. 
  • Das Thema Agilität kann dabei als Leitidee für den Umbau der bestehenden Organisationsverhältnisse für diesen tiefgreifenden Strukturwandel stehen. 

Zweitens: Arbeitswelten gestalten, in denen wir motiviert und mit Freude arbeiten. 

Oh mein Gott, wenn wir uns Studien wie beispielsweise die Gallup Studie (Deutschlands renommierteste und umfangreichste Studie zur Arbeitsplatzqualität) anschauen, wird deutlich, wie wenig motivierend die meisten Menschen die Arbeit in starren Hierarchien empfinden: 

  • Drei von vier Beschäftigten machen lediglich Dienst nach Vorschrift (71 Prozent). 
  • Der Anteil der emotional hoch gebundenen Arbeitnehmer/innen ist laut Gallup in Deutschland nach wie vor auf einem niedrigen Niveau. Nur 15 Prozent der Beschäftigten weisen eine hohe emotionale Bindung an ihren Arbeitgeber auf und gehen ihrer Arbeit mit Hand, Herz und Verstand nach.

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Das heisst: 

  • Auch wenn sich diese Zahlen auf Deutschland beziehen, würde ich behaupten, die Quintessenz daraus lässt sich allgemein auf Arbeitswelten in hierarchisch geprägten Organisationen transferieren: Nämlich dass das unglaubliche Potential der Menschen in diesen Arbeitswelten viel zu wenig genutzt wird! Da schlummern Talente und Stärken, die - würde man sie entfachen und in starken Teams bündeln - Grossartiges erreichen könnten. 
  • Glücklicherweise sind immer weniger junge, gut ausgebildete Mitarbeitende dazu bereit, als Befehlsempfänger/in in der klassischen Hierarchie zu agieren. In Zeiten, in denen Menschen nicht mehr zwingend an ein Unternehmen gebunden sind, stellen sich demnach andere Anforderungen an Potentialentfaltung, Flexibilität und Sinn am Arbeitsplatz. Und auch dieser Druck prasselt nun vehement auf Unternehmen ein. 

Was ist es denn nun, was wir anstelle der Hierarchie anstreben? 

Was ist die Alternative? In diesem Zusammenhang schwirren eine Menge an Vorschlägen umher, wie die Organisation der Zukunft heissen könnte.

So spricht man beispielsweise von evolutionären Organisationen, agilen Organisationen, lebendigen Organisationen, next level Organisations, lernenden Organisationen oder dem selbstorganisiertem Unternehmen.

Puh, bedeuten die nun alle dasselbe oder unterschiedliches? Diese Begriffsvielfalt mit all diesen Modewörtern kann ganz schön Kopfschmerzen bereiten und einem irgendwie die Lust verderben. Zwei gute Nachrichten:

  • Es kommt gar nicht so sehr auf den richtigen Titel der Organisation der Zukunft an. Denn wir wissen nicht, was das Ergebnis sein wird. Das Ergebnis sieht bei jeder Transformation anders aus. Hier ist Gelassenheit angesagt. Und mehr Vertrauen in den Prozess der Transformation. 
  • Und trotzdem braucht es diesen Nordstern, diese Ausrichtung, die antreibt, motiviert, inspiriert, herausfordert. Schauen wir doch, was all diese Zielbilder, so unterschiedlich man sie nennen mag, gemeinsam haben (kein Anspruch auf Vollständigkeit):
     
    • Anpassungs- und Lernfähigkeit: Es handelt sich um Systeme, die sich ständig in Bewegung befinden. Welche die Fähigkeit besitzen, sich kontinuierlich an ihre komplexe, turbulente und unsichere Umwelt anzupassen. Inputs werden als Anregung aufgefasst und für Entwicklungsprozesse genutzt, um die Wissensbasis und Handlungsspielräume an die neuen Bedürfnisse im Umsystem anzupassen. Lernen auf individueller, teambasierter und organisationaler Ebene wird der zentrale Erfolgsfaktor. 'Be a ferrari' wird zum Leitbild zukunftsfähiger Organisationen! 
    • Purpose: Sie folgen einem gemeinsamen Purpose, der ihr Daseinsgrund und das höhere Ziel ist und auf das möglichst alle Handlungen ausgerichtet sind. Ganz nach dem Motto: Will man Engagement, braucht man auch Bedeutung! 
    • Netzwerke von selbstorganisierten Einheiten - Netzwerke von starken Teams: Ohne oben oder zumindest mit weniger oben - das beinhaltet die Entwicklung in Richtung weniger Hierarchie und mehr Selbststeuerung, mit der Betonung auf Formen der Arbeitsorganisation, welche laterale Kooperation und Teamarbeit ins Zentrum rücken.

      Und lasst uns an dieser Stelle den wahren Genius von Organisationen nochmals vor Augen rufen: Sie verhelfen Menschen als Gruppe dazu, über sich hinauszuwachsen und Ergebnisse zu erzielen, die sie allein nie geschafft hätten. Irgendwie ja nicht gänzlich neu oder? Und dennoch ist die Kraft starker Teams in vielen Pyramiden in Vergessenheit geraten. Wie schön, dass sie nun wieder ins Rampenlicht gerückt werden! 

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Die Reise als Ziel - mit dem Nordstern, der leuchtet! 

Viel wichtiger als das, was am Ende rauskommt, ist letztlich die Frage des WIE wir dorthin kommen. Oftmals schielen Unternehmen viel zu sehr in Richtung WAS, wollen Kreise aufmalen, Gilden gründen und allen Teams Scrum-Master verordnen. Dabei liegt der Schlüssel im WIE und dieses WIE ist ein fortwährender, iterativer Prozess.

Es ist eine Reise,

  • bei der das Endprodukt nicht klar definiert ist, der Nordstern aber eine Ausrichtung gibt, die motiviert, inspiriert, antreibt.
  • bei welcher der Weg das Ziel ist, bei der man immer wieder Umwege geht, bei der man etwas ausprobiert, diese Erfahrungen reflektiert, und die Erkenntnisse wieder in neues Verhalten einfliessen lässt.
  • die für jede Organisation eine andere ist.
  • die vermutlich nicht endet.

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Ausgangslage: Status Quo in den meisten Unternehmen. 

Was wir vielfach beobachten, ist Folgendes: In der Produkt-/Softwareentwicklung wird recht konsequent mit agilen Vorgehensmodellen gearbeitet. Darüber hinaus haben viele begonnen, auch ausserhalb der IT mit neuen Methoden wie Scrum oder Ansätzen wie Holacracy, Soziokratie 3.0 oder kollegialer Führung zu experimentieren. Es ist Bewegung in vielen Organisationen und diese Bewegung ist grossartig! Denn sie zeigt, die Menschen haben sich auf die Reise gemacht. Und nur so sind neue Erfahrungen möglich. 

Und gleichzeitig macht sich eine gewisse Ernüchterung breit. Warum? Hier eine kleine (sicherlich nicht abschliessende!) Auswahl an typischen Herausforderungen: 

  • Der Fokus liegt zu einseitig auf der Einführung von Prozessen und Methoden. Die agilen Vorgehensweisen bringen viele Vorteile mit sich, aber an irgendeinem Punkt stossen sie an ihre Grenzen. Nämlich dann, wenn die veränderten Prozesse und Methoden der Zusammenarbeit nicht mehr zu den Organisations- und Führungsstrukturen, geschweige denn zur Unternehmenskultur passen. Alte und neue Arbeitswelt fangen an, sich zu beissen. 
  • Kollision mit den funktionalen Silos: Es wird die Zusammenarbeit innerhalb der Silos verändert, aber nicht silo-übergreifend. So entstehen oftmals einsame 'agile' Inseln ohne eine Idee, wie das Ganze zusammengeführt werden soll (im Sinne einer Orientierung, einer Vision, eines Nordsterns im Umgang mit den agilen Ansätzen). 
  • Die 'gläserne Decke Richtung Top-Management' lässt die agilen Inseln feststecken: 
    • Durch die Erfahrungen in der Organisation mit den agilen Experimenten reift die Erkenntnis,  was 'Oben Ohne' tatsächlich bedeutet und dass Statusverlust und Machtverteilung eine logische Konsequenz, nein sogar Bedingung dieser Entwicklung darstellen ... und diese die Bereitschaft jeder einzelnen Führungskraft erfordert, eigene Verhaltensweisen zu verändern/anzupassen. Das will nicht jede/r und so kommt es oft zum Zurückrudern und für die Mitarbeitenden schwer nachvollziehbaren Richtungswechseln. Zurück bleiben demotivierte Mitarbeitende und Teams, deren Talente kurz strahlen durften und die in den agilen Experimenten oft unglaublich wertvolle Erfahrungen gemacht haben, die jedoch meist nicht genutzt werden. (Spannend ist, dass viele Mitarbeitende, die Teil solcher Pilot-Projekte waren und die erlebt haben, welche Kraft starke, selbstorganisierte Teams haben, nicht mehr zurück auf 'Start' wollen und nicht selten das Unternehmen verlassen).
    • Ein weiterer Grund für die 'gläserne Decke' ist der, dass oben erwähntes Zielbild im Sinne eines Nordsterns, welcher den Aktivitäten einen Sinn (das Warum!) und eine Ausrichtung verleiht, nicht existiert oder zu vage ist. 
  • Der Mensch in diesen Veränderungsprozess wird oft zu wenig berücksichtigt. Mehr Gestaltungsspielraum, mehr Entscheidungskompetenz, mehr Teamarbeit bringt viele neue Kompetenzanforderungen für die Mitarbeitenden mit sich. Genauso wie Führungskräfte ihre herkömmlichen Führungspraktiken überdenken und Verantwortung delegieren müssen. Klingt auch nicht ganz einfach oder? Es werden also in agilen Experimenten viele Erfahrungen gemacht, die aber oftmals zu wenig reflektiert werden. Was passiert da mit uns? Mit mir? Was lerne ich über mich? Ich wusste gar nicht, dass es mir doch recht schwerfällt, Dinge abzugeben. Woran liegt das? Warum traue ich mich zu wenig, mich einzubringen? Wir scheinen uns im Team zu wenig zu vertrauen. Wie können wir das aufbauen? Oje, jetzt muss ich plötzlich meinen Kolleginnen und Kollegen Feedback geben – wie mach ich das am Besten? Anstatt von ausgeprägten Reflexionskompetenzen jede/s Einzelnen/r auszugehen, ist es für den nachhaltigen Erfolg von solchen Veränderungsprozessen absolut wesentlich, diese Reflexionsprozesse aktiv zu fördern - auf individueller, teambasierter sowie organisationaler Ebene. Macht man dies gewissen- und ernsthaft, braucht das Raum und Zeit. 
  • Nehmen sich Teams den Raum und die Zeit für das bewusste Lernen, sinkt die Performance und der Output. Das schürt Ungeduld und lässt schnell Zweifel hinsichtlich des Erfolgs von Selbstorganisation und Agilität entstehen. Blickt man in Organisationen, die sich zielstrebig in Richtung zukunftsfähige, lernende Organisation bewegen, und in denen merklich Veränderung passiert, wird schnell eine Eigenschaft sichtbar, die sie alle gemein haben: Durchhaltevermögen und der starke Glaube an eine bessere Arbeitswelt, in der wir gemeinsam vor einsam agieren und jede/r seine Potentiale in starken Teams entfalten kann. 

Was erwartet dich in Teil 2 der Serie? 

Nachdem sich dieser Artikel damit beschäftigt hat,

  • warum in vielen Konzernen und kleineren Unternehmen eine Entwicklung weg von tradierten Strukturen hin zu mehr Selbstorganisation zu beobachten ist ('Ohne Oben' bzw. 'Mit weniger Oben' aufgrund der Anforderungen der digitalen Transformationen wie auch Anforderungen der Mitarbeitenden nach mehr Potentialentfaltung), 
  • was charakteristisch ist für Organisationen der Zukunft (Anpassungs- und Lernfähigkeit, Purpose, Netzwerke selbstorganisierter, starker Teams), 
  • dass Transformation als eine Reise zu verstehen ist (iterativ, experimentell, geleitet durch eine starke Ausrichtung, einen inspirierenden Nordstern - und Vertrauen in diese Reise und der Weg Richtung Nordstern entscheidender ist als das Wissen darüber, wie das Zielbild der zukunftsfähigen Organisation ganz genau aussieht), 
  • welchen Herausforderungen viele Unternehmen auf ihren Reisen begegnen, 

widmet sich Teil 2 dieser Serie den folgenden beiden zentralen Fragen: 

  • Was heisst Selbstorganisation in starken Teams? 
  • Welchen kleinen und grossen Mythen begegnet man bei diesem Thema immer wieder und was sind unsere Antworten darauf? 

Viel Freude beim Weiterlesen! 

 

Verwendete Literatur (Ausschnitt): 

  • Häusling, André et al. (2018): Agile Organisationen. Transformationen erfolgreich gestalten - Beispiele agiler Pioniere.
  • Laloux, Frederic (2015): Reinventing Organisations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. 
  • Klein, Sebastian; Hughes, Ben (2019): Der Loop Approach: Wie du deine Organisation von innen heraus transformierst. 
  • OrganisationsEntwicklung Ausgabe 2/2019: Ohne Oben - die Kunst der Selbstorganisation. 

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